Ein dummes Mädchen lieben
(Sommersonnenwende, vierter Teil)
„Und Sie suchen jetzt auch jemanden, der Sie eines Tages umbringt?“, fragt er sie, nachdem er von seiner Rauchpause zurückgekehrt war.
Sie hatte sich inzwischen einem Mann zugewandt, der auf der anderen Seite ihres Hockers sitzt, was ihm einen kleinen Stich in der Herzgegend verursacht, wie er bemerkt. Aber nachdem er wieder an seinem Platz ist, wendet sie sich wieder ihm zu, was er nun beruhigt feststellt.
„Eigentlich nicht“, antwortet sie, „eher jemanden für das Gegenteil.“
„Aha. Und was wäre das Gegenteil?“
„Das Leben. Außerdem bin ich nicht in dem Gewerbe, in dem Hermine tätig ist. Oder diese Maria“, fügt sie an.
„Ah, Hermine war also in einem ‚Gewerbe‘ tätig! Und in welchem?“
„Dem horizontalen. Sie waren zwar das, was man damals ‚Lebedamen‘ nannte, aber in gewissem Sinn auch Prostitution darstellt. Was auf mich nicht zutrifft.“
„Und, äh …, welches ‚Gewerbe‘ trifft auf Sie zu?“
„Was glauben Sie denn?“, zwinkert sie ihm zu.
Nachdem sie ihm erzählt hatte, dass sie zwar Literaturwissenschaftlerin ist, aber „nur in einer Bibliothek“ arbeitet, hätte er sich erneut beinah verschluckt. Ein dummes Mädchen lieben, fällt es ihm erneut aus Hesses „Steppenwolf“ ein: „[…] und völlig unmöglich hätte es mir geschienen, ein Mädchen länger als eine Stunde zu lieben, das kaum ein Buch gelesen hatte, kaum wußte, was lesen ist, und einen Tschaikowsky von einem Beethoven nicht hätte unterscheiden können.“ Diesmal zitiert er es laut.
„Sie haben einen vorherigen Teil des Satzes vergessen, der da unter anderem lautet: ‚[…] ich brachte meine Probleme und Gedanken zu den Frauen mit […]‘!“
„Sie scheinen mit Ihrem Buch weiter zu sein, als es scheint“, kontert er mit einem sarkastischen Unterton, einem Zeig mit dem Weinglas auf den „Steppenwolf“ vor ihr und ohne auf ihre Antwort einzugehen. Zweimal „scheinen“, fällt ihm auf: welch schlechter Stil! „Haben Sie das Buch etwa auswendig gelernt?“, fügt er an, diesmal schon fast boshaft.
„Fühlen Sie sich etwa angesprochen?“, kontert wiederum sie, und er meint erneut, den Schalk in ihren Augen zu sehen, wenn nicht gar Belustigung — über ihn!
„Sie machen sich lustig!“, antwortet er mit gespielter Empörung. Doch irgendwie und irgendwo hatte sie ihn auch getroffen.
Er trinkt seinen letzten Schluck, streicht sich seine zwar schütter gewordenen, aber lang gewachsenen dunkelblonden und mit grauen Strähnen durchzogenen Haare nach hinten, beschließt, diese Bekanntschaft zunächst auf sich beruhen zu lassen, und bestellt zum Abschluss noch einen spanischen Branntwein und seine Rechnung. „Wollen Sie auch einen?“, fällt ihm ein sie zu fragen.
„Ergreifen Sie etwa die Flucht, jetzt, da es interessant wird?“
(Fortsetzung: Eine leichte Liebe)
Kommentare
Ein dummes Mädchen lieben — Ein Kommentar
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>