Früher diente das Mittelmeer dem Handel und der zivilen Schifffahrt. Das hat sich geändert. Heute kann das Mittelmeer, wenn es uns gelingt, es in das zurückzuverwandeln, was es einmal war, eine herrliche Badewanne sein. Oder: Es wird zu einem Becken, in dem ein Kind in drei Zentimeter tiefem Wasser ertrinkt. Leider bewahrheitet sich inzwischen letztere Vermutung. Dass dieses Meer, diese Verbindung – denn das Meer ist eine Verbindung – zu etwas Trennendem wird, ist ein Frevel gegen das Meer selbst; es erscheint mir wie eine Gotteslästerung. Meines Erachtens liegt eine enorme Gefahr in der Art und Weise, wie die Staaten das Problem der Migration angehen. Das Abschotten der Grenzen auf See wie an Land soll dafür sorgen, sie unüberwindbar zu machen. Auf See bedeutet eine unüberwindbare Grenze in neunzig Prozent der Fälle den Tod desjenigen, der sie zu überwinden versucht. Wenn ich von den vielen Toten im Mittelmeer höre, muss ich immer an einen Satz von Aischylos denken: „Die Leichen treiben in brandender See.“ Dabei klingt „treiben“ fast harmlos für die Brutalität dieses Bildes. Heute ist das Meer förmlich mit Leichen übersät. Aber wie groß ist das Bewusstsein all dessen? Was fehlt, ist Mitleid, Verständnis für die anderen. Und das wäre am allernötigsten.
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