Ich ließ meinen Engel lange nicht los
Von Rainer Maria Rilke
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
(Geschrieben am 22. Februar 1898 in Berlin-Wilmersdorf, veröffentlicht im Kapitel „Engellieder“ im Band „Mir zur Feier“ von 1897/1898. Das Gedicht ist Rilkes großer Liebe Lou Andreas-Salomé gewidmet)
Es handelt sich um die lyrische Bestandsaufnahme einer komplizierten Beziehung. Vier Jahre lang erleben Rilke und Lou Andreas-Salomé, der „Engel“ im Gedicht, eine Amour fou inklusive emotionaler Achterbahnfahrten. Sie war eine starke autonome Frau und befürchtete, vom psychisch labilen Rilke mit seinen unberechenbaren Stimmungen in einen Abgrund gerissen zu werden. Sie beschreibt ihn als „bald deprimierten, bald excitirten, einst Allzufurchtsamen, dann Allzuhingerissenen, – das war ein ihm wohlbekannter und unheimlicher Gesell, der das Seelische krankhafte fortführen kann … in’s Geisteskranke.“ Salomé entscheidet sich letztlich für eine Trennung. In ihr Tagebuch notiert sie: „Damit R. fortginge, ganz fort, wäre ich einer Brutalität fähig. Er muss fort!“ Und dann schickt sie ihn tatsächlich nach vier Jahren fort. Als Liebhaber. Der Austausch, die Freundschaft, das Vertraut-Sein zwischen den beiden bestanden jedoch bis zu Rilkes Tod fort.
Nachdem er verlassen worden war, notiert er:
„Warst mir die mütterlichste der Frauen,
ein Freund warst Du, wie Männer sind,
ein Weib, so warst Du anzuschauen,
und öfter noch warst Du ein Kind.
Du warst das Zarteste, das mir begegnet,
das Härteste warst Du, damit ich rang.
Du warst das Hohe, das mich gesegnet –
und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.“
(Siehe hier etwa auch „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, eine weiteres Rilke-Gedicht, und „So we’ll go no more a–roving“ von Lord Byron!)


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