Mark Hollis gestorben
Ein persönlicher Nachruf
Mark Hollis gestorben! Erst heute habe ich es zufällig erfahren. Der Gründer und Komponist, Arrangeur, Musiker, Texter und damit künstlerischer Kopf der Gruppe Talk Talk verstarb bereits am 24. Februar „nach kurzem, schweren Leiden“ im Alter von 64 Jahren. Ein Nachruf und eine Würdigung seines Werks.
Es war die Ära des Thatcherismus (1979 bis 1990) in Großbritannien, die als eine Antwort darauf den Punk hervorbrachte. Nach dessen zunehmender Kommerzialisierung trat die New Wave an dessen Stelle und mit ihr New Romantic. Aber es war eine kalte neue Romantik, zumindest aus heutiger Sicht betrachtet, dominiert vom Sound der Synthesizer und Drum-Computer. New Romantic wurde auch bald zum Synonym für den Ausverkauf der New Wave.
Talk Talk
Talk Talk wurde 1981 gegründet. Von ihrer Plattenfirma als Konkurrenzprodukt zu den New-Wave- und Synthie-Pop-Bands Duran Duran und Ultravox aufgebaut, waren ihre ersten Platten jedoch nur mäßig erfolgreich.
The Party’s Over
Im Juli 1982 veröffentlichen Talk Talk ihr Debüt „The Party’s Over“. Bemerkenswert ist auf dieser Platte allenfalls das Stück „Have You Heard the News?“, das textlich schon eine Richtung andeutet, in die sich die Gruppe entwickeln wird. Auch der Titel hebt sich wohltuend von vielen oberflächlichen Gute-Laune-Tanzmusiken dieser Zeit ab.
It’s My Life
Im Februar 1984 erschien „It’s My Life“, dessen Titelstück und später „Such a Shame“ zu Hits wurden. Auch ich hatte diese Stücke damals regelmäßig im Radio gehört, mein Ding war das damals aber nicht. Jedenfalls bescherten sie der Gruppe (und der Plattenfirma) einen ersten kommerziellen Erfolg, auch wenn sich darauf vor allem mit „Renée“, „Tomorrow Started“ und „Does Caroline Know?“ weitere Stücke finden, die eine andere Richtung andeuten. Mir persönlich gefällt auch das „Dum Dum Girl“, alles Stücke jedoch, die ich erst viel später entdecken sollte.
The Colour of Spring
Das folgende Album „The Colour of Spring“ von 1986 toppte diesen Erfolg sogar noch, auch wenn sich immer mehr abzeichnete, dass die Gruppe dem New Romantic genannten Stil abgeschworen und eine Hinwendung zu progressiveren Tönen vorgenommen hatte, der auch Raum für Improvisationen bot. Selbst ein Kinderchor kommt in „Happiness is Easy“ zum Einsatz, mit dem sie zum ersten, aber nicht zum letzten Male auch religiöse Themen aufgriffen. Die Synthesizer und Drum-Computer sind durch Keyboards und reales Schlagzeug ersetzt worden. Steve Winwood spielt auf diesem Album übrigens in mehreren Stücken die Orgel. Es wird zum am meisten verkauften Album ihrer Geschichte, sogar eine Einladung zum Jazz-Festival im Montreux 1986 folgte.
Spirit of Eden
Erst mit diesem Album stellte sich ein gewisser Erfolg ein, sodass ihnen ihre Plattenfirma ein riesiges Budget und viel Zeit für die Produktion ihres nächsten Albums zur Verfügung stellten. Dabei überschritten sie jedoch sämtliche Vorgaben. Talk Talk, die den Synthesizer-Spieler schon nach dem ersten Album durch einen Pianisten ersetzt hatte, der auch an den Arrangements mitwirkte, zogen sich für Monate in eine Kirche in Suffolk zurück, in der sie ein Studio eingerichtet hatten.
Nachdem Hollis mehrfach die Deadline zur Abgabe des Materials überschritten und der Plattenfirma Einsicht ins neue Werk verweigert hatte, kam es zum Eklat. Nach über einem Jahr im Studio führen sie im September 1988 „Spirit of Eden“ einem gespannten Publikum vor. Den Verantwortlichen des Labels war sofort klar: Talk Talk hatten kommerziellen Selbstmord begangen.
Die nur sechs Stücke des Albums sind in mehrstündigen Improvisationen während langer Aufnahmesitzungen zu einem organischen Gesamtkunstwerk erwachsen, das heute noch seinesgleichen sucht. Sie hatten in einer einzigartigen atmosphärischen Dichte experimentiert und gleichzeitig einen riesigen Freiraum für dynamische, jazzige Improvisationen gelassen. Es markierte endgültig die Abkehr vom New Wave hin zu dem, was schließlich Post-Rock genannt werden sollte.
Streit mit der Plattenfirma
Die Plattenfirma wollte das Album dennoch veröffentlichen, aber sie verlangte weitere Stücke, die sich als Singles eigneten. Nachdem das Label eigenmächtig das Stück „I Believe In You“ als Single herausbrachte und dafür auf eine radiotaugliche Spielzeit kürzte, war Hollis erzürnt. Als diese dann 1990 eine Art „Greatest Hits“ herausbrachten, nahm die Band das noch zähneknirschend hin, um endlich aus dem bestehenden Vertrag zu kommen. Als die Plattenfirma auch noch ein Remix-Album ihrer alten Stücke herausbrachte, ohne dies mit Hollis abgesprochen zu haben, kam es zum endgültigen Bruch. Die Folge: Es kam zu einem Monate dauernden Rechtsstreit mit ihrer Plattenfirma, den die Band schließlich 1992 gewann. Das Remix-Album und die Single mussten vollständig aus dem Handel gezogen und vernichtet werden. Doch Hollis war bereits zu verbittert vom Musikgeschäft.
Laughing Stock
Bei einer neuen Plattenfirma, eigentlich ein Jazz-Label (!), erscheint im September 1991 das Abschiedswerk „Laughing Stock“. Wie für den Vorgänger wurden auch hierfür dutzende Musiker ins Studio eingeladen, ohne dass dadurch die Aufnahmen überladen klingen. Im Gegenteil! Es ist ein Werk mit erneut nur sechs Stücken voller minimalistischer Brillanz, auf dem jede einzelne Note und jede Pause ihre Bestimmung haben.
Auch hier findet sich u. a. mit „Ascension Day“ ein Stück mit religiösem Ton, selbst der Tod, früher nur vage gestreift, hält Einzug in die Texte. Musikalisch finden sich hier wie auf dem Vorgänger Einflüsse aus Folk-, gar Weltmusik, Jazz und (moderner) Klassik. Aber es ist auch ein Stück dunkler, klaustrophobischer.
Zeitlose Klassiker
Für die Massen waren die letzten Alben schwer verdaulich, besonders das letzte, ebenso für die Kritik. Manche bejubelten es schon damals, viele entdeckten deren Wert erst viel später. Wie ich, nachdem ich zufällig ein oder zwei längere Stücke von ihnen im Radio gehört hatte. Talk Talk hatten sich spätestens mit ihren zwei letzten Platten von den Schablonen der New Wave und des Synthie-Pop emanzipiert und zeitlose Klassiker geschaffen. Mit ihnen wurden sie in den Ohren vieler Kritiker zu einer der am meisten unterschätzten Bands der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts – wenngleich auch erst später.
Mark Hollis
Ich erinnere mich in einem Interview mit Mark Hollis gelesen zu haben, dass jede Note, jeder Ton für ihn eine Bedeutung und Wichtigkeit habe; er überlege sich sehr genau, ob und wie er sie setzte. Bevor man zwei Noten spiele, solle man erst lernen, eine zu spielen, und die auch nur dann, wenn man einen triftigen Grund dafür habe:
Before you play two notes, learn how to play one note. And don’t play one note unless you’ve got a reason to play it. (Jason Morehead: Review of Mark Hollis, 28. Januar 2006)
und
I think silence is an extremely important thing. It isn’t something that should be abused. And that’s my biggest worry because of the whole way that communications have developed, that there is a tendency just to allow this background noise all the time rather than thinking about what is important. The silence is above everything, and I would rather hear one note than I would two, and I would rather hear silence than I would one note. (Mark Hollis im BBC Radio 1 mit Richard Skinner in einem interview über „Laughing Stock“, undatiert)
Mark Hollis’ letzte Aufnahmen
Dies hörte man seiner Musik immer mehr an. Besonders in seinem letzten, nach der Auflösung von Talk Talk 1991 aufgenommenen Solowerk, erschienen im Januar 1998 und nochmals im März 2000. Es trägt nur seinen Namen als Titel und ist eine Art Vermächtnis, die Essenz all seines Schaffens. Es ist eine Musik der Stille, geradezu intim und tief religiös, die fast stillzustehen scheint. Vergleichbar mit einer Wolke am Himmel, die stillzustehen scheint, wenn man sich auf sie konzentriert. Erst wenn man den Blick von ihr abwendet, stellt man fest, dass sie ein Stück weitergewandert ist.
To me the ultimate ambition is to make music that doesn’t have a use by date, that goes beyond your own time. (Mark Hollis in einem Interview auf „paul’s talk talk pages – Fansite dedicated to Talk Talk“, undatiert)
Mark Hollis gestorben
Kurz nach dem Erscheinen seines letzten Werks zog er sich vollständig aus dem Musikgeschäft und aus der Öffentlichkeit zurück. Er wollte sich um seine Frau und seine beiden Söhne kümmern. Schon zu seinen Lebzeiten scheute er die Öffentlichkeit, es gibt keinerlei Skandale um ihn zu berichten. Nun ist Mark Hollis gestorben. Der, der die Stille wollte, ist weitergewandert. Irgendwie konsequent.
Weitere Verweise
- The Guardian: Mark Hollis obituary, ein Nachruf vom 26. Februar 2019 (englisch)
- SPIEGEL ONLINE: Talk Talk-Sänger Mark Hollis ist tot: Such A Shame, ein Nachruf vom 26. Februar 2019
- Talk Talk bei laut.de
- Genius: Talk Talk Lyrics, Songs, and Albums
- Genius: Mark Hollis Lyrics, Songs, and Albums (beide englisch)
- Snow in Berlin – Talk Talk & Mark Hollis, „A Mark Hollis and Talk Talk Resource“ (englisch)
- und zu einem weiteren von mir sehr verehrten Musiker: Jim Morrison wäre heute 75
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