Das 24-köpfige Kind
Vorwort: 1973 machte ich die ersten Schritte auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“. Ich begann Theater zu spielen. Genau genommen waren es nicht die allerersten Schritte. Als Kind durfte ich in einem Krippenspiel mit einem umgehängten gemalten Schwein auf Pappe als Schwein an diesem für einige Minuten teilhaben. Es gab zu viele Kinder in der Klasse, die mit Rollen versehen werden mussten, deshalb ein Schwein in einem Krippenspiel. Ich meine, dass ich diese Rolle für mich sogar selbst vorgeschlagen sogar einen kurzen Text hatte.
Damals, also jetzt wieder 1973, begannen wir an der damaligen Jungen Bühne Frankfurt mit den Proben zu „Der tausendjährige Krieg“ von Fernando Arrabal. Wir brauchten neun Monate bis zur Premiere. Während dieser Zeit lernte ich Maxime Chevalier, nur „Max“ genannt, kennen. Bei, soweit ich mich erinnere, meist französischem Rotwein (Max war Franzose) saßen wir oft abends in seiner Wohnung, die auch Werkstatt war (oder eher: eine Werkstatt, die auch Wohnung war) und hatten die Idee, diese Zeit in einer Art Fabel zu dokumentieren, die ich vor einigen Tagen wiedergefunden hatte und nun hier veröffentliche: „Das 24-köpfige Kind“.
Die Geschichte wurde zwar in die neue Rechtschreibung und damit in eine ganz andere Zeit überführt, aber den „Interzonenzug“ wollte ich doch einfach so stehen lassen.
Den Namen des Regisseurs möchte ich noch offenlegen und ihm meinen Dank für diese Erfahrung aussprechen, die mein Leben grundlegend verändert hat, auch wenn er ihn selber nicht mehr lesen kann, da er vor einigen Jahren verstorben ist: Werner Andreas!
Das 24-köpfige Kind
Die auftretenden Tiere:
Werner, der Elefant, später auch Noah
Buschko, der Rotfuchs
Uli, der musizierende Esel
Susanne und Juliane, die Schwestern Ringel- und Turteltaube
Fritz, der Kondor
Lili, die goldene Antilope
Ansgar, der Dachs
Hans-Jörg, der Wasserbüffel
Ruth, die lustige, bunte Fledermaus
Monika, das Eichhörnchen
Conny, die ausgeflippte Schwalbe
Brigitte, die einsame Siamkatze
Helga, das boxende Känguru
Jojo, der besoffene Schakal
Elli, das Reh
Regina, das Pony
Jürgen, das Schnabeltier
Margit, der grüne Flamingo
Faust, der Dackel
Hans, der Elch
Michael, der Biber, auch Maschinist und Heizer
Max, das brünstige Nashorn
Ron, die ozeanische Schildkröte
Ja, Werner war schon eifersüchtig auf diese Frau, die er hier im Berliner Forum-Theater sah. Diese Frau soll traumhaft schön, fantastisch und zugleich grausam und hart sein, so hörte er schon in Frankfurt, und alles erfüllte sich in dem Moment, als er sie sah. Werner verspürte die Stimmung im Publikum. Aus Angst, er könne den Applaus nicht ertragen, schlich er sich schon vor Ende des Stücks wie ein verliebter Junge mit Tränen in den Augen hinter die Kulissen. Er betrachtete das Mädchen von hinten, von vorne, von allen Seiten. Jetzt, so wusste er, wird sie sich für mich verwirklichen können. „Ja“, das gab er einmal offen zu, „ich war besoffen, aber geliebt habe ich sie gleich.“
Und das ist er: ein Mann, ein Regisseur. Jetzt, sofort und hier wollte er mit ihr schlafen. Er kam, auf seine Art, in der rechten Hand eine Flasche Whisky, in der linken seinen … „Was willst du von mir?“ „Trinkst du’n einen Whisky mit?“ fragte er zurück und schüttelte dabei seine linke Hand. „Du bist ja ein süßer Elefant. Wo hast du denn den schönen Rüssel her?“ meinte sie amüsiert.
Da fing der Elefant zu erzählen an, wie er es immer tat, stundenlang, über Frankfurt, über Theater, über sich, über alles, was sein könnte, was war, was ist, was sein wird. Noch während das Publikum zum Ende der Aufführung applaudierte, schliefen sie zusammen hinter den Kulissen, und für Werner war der Applaus wie ein Ansporn.
Am Morgen: die Flasche, der Rüssel, das Bett – alles war leer!
„Achtung, Achtung! Der Interzonenzug Berlin–Frankfurt, der mit einer halben Stunde Verspätung gemeldet war, fährt heute ausnahmsweise auf Gleis 3 ein. Ich wiederhole: …“ Werner machte mühsam ein Auge auf: „Scheiße, wieder in Frankfurt!“
Er war zurück in seiner Heimat, im Dschungel mit seinen mörderischen Schlingpflanzen, Orchideen, tödlichen Zweikämpfen, Nahrungssuche, gefährlichen Tieren und Pflanzen, todbringenden Insekten, ein hektisches Leben, nur vom Überlebenstrieb gelenkt. Oh, wenn du da nie gelebt hast, kannst du dir das nicht vorstellen! Du brauchst den ständigen Lärm, denn du hast dich daran gewöhnt. 17 Uhr: Es steigert sich, 18 Uhr: Es wird zu viel, du kannst es nicht mehr ertragen, es rennt es quietscht, schreit, hupt, brüllt und klopft. Da ein Licht, da eine Sirene! Das Ganze ist so gut organisiert, dass jeder es erträgt, aber leidet. Ja, wir werden zu Tieren gemacht, wir sind schon zu Tieren geworden. 19 Uhr, 20 Uhr: Die Nacht kommt langsam und deckt alles zu.
Zu spät, wir sind schon zu Tieren geworden, aber wer etwas ändern will, wer nicht satt ist, schläft nicht, sondern nutzt die Nacht.
Das Kind, das ich in mir habe, das jeder noch in sich hat, schlief und hörte mir diesmal schon lange nicht mehr zu. So klein es auch war, es schaffte es, über allem zu stehen. Ich war neidisch. Später erzählte es mir, was es alles gesehen hatte.
Es träumte, es sah in jedem Haus einen Baum, in jeder Wohnung einen Ast. Die Autos verwandelten sich in Moskitos. Und es sah ein Wasserloch. Es war die Zeit, wenn sich die Tiere allabendlich versammeln, um zu trinken. Die Sonne ist nur noch klein am Horizont zu sehen.
Der musizierende Esel und das Eichhörnchen erschienen als Erste. Der Esel meint, es bliebe kein Tropfen übrig, wenn er später käme, das Eichhörnchen ist sehr fleißig. Danach kommt das Pony dahergaloppiert, nur um mal zu sehen, wer da immer als Erstes kommt, freut sich mit den anderen, stellt dann aber fest, dass hier noch nicht viel los ist, und wird dann still. Der grüne Flamingo möchte sich interessant machen und kommt auch recht früh. Der musizierende Esel versucht einen Witz zu machen, der Flamingo steht zurückhaltend dabei, das Eichhörnchen ist höflich, nur das Pony lacht auf jeden Fall. Gleich darauf hört man noch ein Lachen: der Elch und der Dackel erscheinen. Kurz danach trifft das Reh ein, das scheu und verlegen um sich schaut. Der Kondor und die beiden Turteltauben umfliegen das Wasserloch, denken, dieser Moment scheint günstig zu sein, und landen.
Etwas unerwartet tritt der Wasserbüffel auf, grüßt nur die, die er leiden kann. Da vernehmen die Anwesenden, in Geplauder vertieft, ein heftiges Trampeln: Das brünstige Nashorn und der Elefant erscheinen. Der Elefant stürzt sich gleich ins Wasser und beginnt die Getränkezeremonie, indem er die Umstehenden mit Wasser bespritzt. Während dieser Eröffnung kommt der Rotfuchs, der noch ein Fressen gesucht hat, dann die Antilope, die ihr Junges schlafen legen wollte. Die Schildkröte hatte erst jetzt Lust zu erscheinen, die Fledermaus schwirrt lachend herbei, ebenso der Dachs und die Schwalbe, die sich auf dem Wege trafen, und als Letzter der Schakal, der zwar schon getrunken hatte, aber immer noch durstig ist. Er wollte allen beibringen, wie sie trinken sollen: „Ich habe schon an vielen Wasserlöchern getrunken, wie ihr das macht, ist scheiße!“ Aber dann wurde er ruhig und behielt das Reh im Auge.
Auch Werner hatte diesen Traum. Überhaupt, es ging ihm gar nicht gut in diesen Tagen. Sein Bauch wurde immer dicker. Zuerst dachte er, das käme vom Saufen, bis er merkte, dass er ein Kind bekommen sollte. Und es sollte eine schwierige Geburt werden …
Um seine Geburt zu verwirklichen, brauchte er Tiere, und er erinnerte sich seines Traumes. So begann er, sich seine Leute zu suchen, wobei er eine Menge kennenlernte, doch die kamen und gingen. Die ausgeflippte Schwalbe konnte wegen einer Krankheit nicht bleiben, der Schakal war nur noch am Trinken und übernahm sich, der Dackel fühlte sich unterdrückt und der Elch sah keinen Sinn in dem ganzen Theater. Dadurch wurde die Schwangerschaft sehr lang und schwierig, aber bald kamen die einsame Siamkatze, das boxende Känguru, das Schnabeltier, später dann auch der Biber, der als Heizer und Maschinist fungierte.
Bei der Schwangerschaftsgymnastik zeichnete sich übrigens auch besonders Dr. Dittrich und sein Lokal aus. Unter der Anwendung von viel Königsbacher Wasser vollzog er seine heilende Tätigkeit. Aber auch der Elefant zeigte sich sehr bemüht um die Gesundheit des werdenden Lebens.
„Wie nach jeder Aufführung wollen wir auch diesmal mit dem Publikum diskutieren“, meinte der Elefant und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
Oh, wie viel Zeit war inzwischen vergangen, wie viele deprimierende, wie viele unglückselige Momente! So drückte eine große Lustlosigkeit auf die Schultern der Tiere, so kurz vor der Geburt, aber der silberne Elefant hielt sie alle zusammen.
Als die Geburt dann stattfand, war das dann doch für alle überraschend. Vom heftigsten Lampenfieber geschüttelt und von einer fürchterlichen Aufregung gepackt, gaben dann doch alle Beteiligten ihr Bestes. Es lief wie am Schnürchen. Danach, wie sollte es anders sein, wurde gefeiert. Aber wie! Es war fast eine Orgie und alle Belastungen der letzten neun Monate fielen von jedem Tier ab und gaben sein Innerstes frei. Jeder umarmte jeden, herzte und küsste, alle freuten sich, alle Spannungen waren vergessen.
Es berauschte alle …
Eines Nachts träumte Werner wieder. Bis vor kurzem waren es nur Albträume und der Traum, in dem Werner erkannte: Er ist ein Elefant. Auch dieser neue Traum sollte ihm eine Erkenntnis bringen: Er träumte, er schwimmt mit einer Arche über die See. Es wurde langsam dunkler und stürmischer, die Tiere an Bord drängten sich um ihn und beschnüffelten ihn von allen Seiten. Plötzlich hörte er eine Stimme: „Du bist Noah, du bist Noah!“
Schweißgebadet wachte Werner auf. Er glaubte, weiter zu träumen, denn seine Ohren vernahmen noch eine Stimme, diesmal sanft, einschmeichelnd, eine weibliche Stimme: „Haben Sie schlimme Gedanken? Subversive Ideen? Haben Sie schlecht geträumt?“
Werner stammelte: „Ich ha-habe geträumt … ich wäre … Noah.“ „Haben Sie dabei schlimme Gedanken?“ „Die Arche landete und alle gingen fort!“
Die Erfüllung auch dieses Traums ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer Weile fiel die Truppe auseinander. Einige hatten sich angefreundet, einige konnten sich nicht mehr leiden.
Und Werner fragte sich, ob nicht alles ein Traum gewesen sei …
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