Der Adler ist gelandet
Lautsprecher: Ruhe in Trakt 19. Es wird geschlafen jetzt.
(Stille)
Katar: Erzähl schon, erzähl. Du hast dich informiert, oder? Du weißt über alles Bescheid, ja? Was haben sie gesagt bei ihrer Ankunft?
Amiel: „Bzzzzzzz, bzzzzzzz, wir sind auf dem Grund des ‚Meeres der Stille‘, der Adler ist gelandet.“
Katar: Und dann sind sie wirklich gelaufen?
Amiel: Zuerst ist nur einer ausgestiegen. Er hat versucht, einen Fuß auf dem Mondboden aufzusetzen. Es hat ausgesehen, als ob er schwankte. Jedenfalls hab ich’s so aus der Zeitung, aber schließlich machte er den ersten Schritt.
Katar: Wo hast du den Zeitungsausschnitt?
Amiel: Ich hab ihn verschluckt … wenn man ihn bei der Durchsuchung fände, wäre ich verloren.
Katar: Und was hat er gesagt?
Amiel: Wann?
Katar: Als er den Mond betreten hatte.
Amiel: Zahlen, glaube ich.
Katar: Und der andere?
Amiel: Der andere ist erst später ausgestiegen. In der Zeitung stand, den ganze Menschheit hat diese Heldentat im Fernsehen verfolgt.
Katar: Nur wir nicht.
Amiel: Erst später haben sie gesprochen, einer von ihnen sagte [über Lautsprecher]: „Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, alle, die uns hören, wo immer sie sich auch befinden mögen, zu bitten, sich einen Augenblick andächtig zu sammeln, über die Ereignisse der letzten Stunden nachzudenken und Dank zu sagen – jeder auf seine Weise.“ […]
Katar: Von uns haben sie nicht gesprochen?
Amiel: Wieso von uns?
Katar: Na, von uns hier.
Amiel: Niemals wird von uns gesprochen, von keinem.
Katar: Sogar die ersten Menschen auf dem Mond erinnern sich nicht an uns.
[…]
Lautsprecher: Dieses Gefängnis ist berühmt und berüchtigt. Grauenhafte Verbrechen sind dort geschehen. An manchen Stellen der Mauern des Innenhofs, ein Hof mit Akazien, sind noch Ausbesserungen zu sehen – Einschläge der Maschinengewehrsalven bei Massenhinrichtungen. Tausende von Menschen sind in diesem Gefängnis gestorben oder haben es nur verlassen, um zum letzten Gang anzutreten. Pausenlos ist man hier Prügel und Folter ausgesetzt.
[…]
[Später, in einem Traum Amiels:]
Katar als „reicher Freund“: Durero! Durero!
Amiel als „Durero“: Ja?
Katar als „reicher Freund“: Erinnerst du dich nicht an mich? Ich bin Aristodome. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen!
Amiel als „Durero“: Aristodome! Ich habe dich nicht wiedererkannt … Ich bin erst seit gestern freigekommen … ich bin noch wie blind.
Katar als „reicher Freund“: Von wo herausgekommen?
Amiel als „Durero“: Aus der Strafanstalt.
Katar als „reicher Freund“: Du warst im Gefängnis? Das wußte ich gar nicht.
Amiel als „Durero“: Die Presse durfte nicht darüber berichten.
Katar als „reicher Freund“: Aber was ist denn mit deinen Augen, mein Lieber?
Amiel als „Durero“: Durch die Enge. Weil ich keinen Horizont sah, sondern nur die Wände meiner Zelle oder die hohen Mauern des Innenhofs anstarren konnte, haben sich meine Augen daran gewöhnt, nur noch von nahem zu sehen. Jetzt, auf der Straße, bin ich ganz schwindlig und fast blind.
Katar als „reicher Freund“: Ach so. Aber das ist ja unbegreiflich! Der Mensch hat den Mond betreten und bereitet sich darauf vor, in die Galaxis vorzustoßen, und zur selben Zeit gibt es Menschen, die nicht einmal den Horizont sehen. […] Wieviel Jahre warst du denn im Gefängnis?
Amiel als „Durero“: Im ganzen dreiundzwanzig Jahre.
Katar als „reicher Freund“: Dreiundzwanzig Jahre? Unfaßbar!
Amiel als „Durero“: Ich bin kein Einzelfall, keineswegs, das kannst du mir glauben.
Auszug aus Fernando Arrabal: Und sie legen den Blumen Handschellen an, deutsch von Kurt Klinger, Köln 1971. In dem Drama stellt der Autor die Situation und die Träume von politischen Gefangenen (hier: aus dem Spanischen Bürgerkrieg) der 1969 stattgefundenen ersten Mondlandung gegenüber. „Der Adler ist gelandet“ (englisch: Houston, Tranquility Base here. The Eagle has landed!) waren die Worte des Astronauten Neil Armstrong, nachdem die Mondlandefähre „Eagle“ auf dem Erdtrabanten aufgesetzt hatte. Eine Situation, die sich trotz aller technischer Fortschritte der Menschheit bis heute nicht geändert hat: Noch immer vegetieren in vielen Teilen der Erde (politische) Gefangene unter übelsten Bedingungen, während sich die Menschheit aufmacht, den Mars zu erobern.
Im Programmheft des Kellertheaters Frankfurt am Main, in dem das Stück am 4. März 1983 Premiere hatte, hieß es:
Der Mensch beginnt, die Erde zu verlassen und die Galaxien zu erobern, gleichzeitig vernichtet, inhaftiert und foltert er diejenigen, die sich für ein gerechteres, menschenwürdigeres Leben auf eben dieser Erde einsetzen.
(Siehe hier beispielsweise auch „Persepolis“ und „We Choose the Moon“ sowie zu einer weiteren Arrabal-Aufführung „Das 24-köpfige Kind“!)
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