Der Trick mit Thomas Bernhard
(Sommersonnenwende, dritter Teil)
Auf dem Weg zum Supermarkt beschließt er, statt den Wein dort zu kaufen, ein Glas Wein in einer Tapas-Bar zu trinken und sich von dort eine Flasche mitzunehmen. Von der Qualität der spanischen Weine ist er überzeugt. Früher verkehrte er hier fast jeden Abend; als Stammgast diskutierte er mit dem spanischen Wirt oder anderen Gästen oft bis zum Morgengrauen: meist über die Liebe. Nach der Einführung des Rauchverbots in Gaststätten trank und rauchte er lieber zu Hause, obwohl ihm die nächtlichen Gespräche fehlten. Aber ein Glas Wein ohne eine Zigarette: undenkbar!
Wie viel Geld hatte der Wirt vor dem Rauchverbot noch in diese gigantische Entlüftungsanlagen gesteckt, deren Rohre sich völlig überdimensioniert durch den L-förmigen Raum winden und die einem Gast ziemlich bald nach dem Betreten ins Auge fallen. Inzwischen ist sie so gut wie hinfällig und vertreibt allenfalls den Essensgeruch, aber wen dieser stört, soll mit dem Essen aufhören oder wenigstens zu Hause bleiben, lästert er.
Zu dieser Zeit ist das Restaurant meist sehr gut besucht. Da aber die Sommerterrasse noch geöffnet ist, ist es im Lokal selbst nicht allzu voll. Er entdeckt mehrere unbesetzte Barhocker am Tresen und setzt sich auf einen davon. Sein Blick fällt auf den leeren Platz neben ihm: Jemand musste dort sitzen, denn auf dem Tresen befinden sich ein halb volles Glas Weißwein und das Buch „Der Steppenwolf“ und darunter hängt eine Jacke. Doch hoffentlich nicht …
Bevor er weiter darüber nachdenken und sich einen anderen Platz suchen kann, erklimmt genau diejenige, an die er soeben dachte, die Leserin aus dem Park von vor einigen Stunden nämlich, die es gewagt hatte ihn mit „Sie rauchen zu viel!“ aus seinen Gedanken zu reißen, den Barhocker neben ihm. Beinahe hätte er sich an dem Navarra tinto, den er inzwischen bestellt und bekommen hatte, verschluckt. Sie wirft einen kurzen Blick auf ihn.
„Störe ich? Ich kann mich auch woanders hinsetzen“, spricht er sie an, worauf sie antwortet, dass das so schon okay wäre. „Ich werde auch nicht allzu viel rauchen“, fährt er süffisant fort, „zumal mir dieses Vergnügen hier leider genommen wurde.“
„Von mir aber nicht“, stellt sie fest, „zum Glück, das wäre ja noch schöner!“, entgegnet er.
Sie schmunzelt, scheint aber eine mögliche Antwort für sich zu behalten. Auch zum Glück, für sie, denkt er.
Er blickt in den Spiegel hinter der Bar, um ihr Gesicht zu sehen, das aber größtenteils von den dort stehenden Flaschen verdeckt ist. Er kann nur einen kurzen schwarzen Haarschopf erkennen, der sich zwischen und über den Brandys und Likören spiegelt, und darunter … Als er bemerkt, dass sie das Gleiche tut und ihm in die Augen sieht, blickt er schnell weg und schaut sich in der Bar um.
Auch hier hatte er vor einigen Jahren eine Frau kennen gelernt. Wie hieß sie doch gleich? Er kann sich nur noch daran erinnern, dass sie einen aus dem Niederländischen stammenden Nachnamen gehabt hatte, in Münster studiert hatte und von Berufs wegen nach Frankfurt gezogen war wie so viele. Bankenkarriere! Und daran, wie und woran die beginnende Beziehung gescheitert war …
Als ihm gerade wieder ihr Name einfällt, reißt ihn die Stimme seiner Tresennachbarin aus den Erinnerungen: „Sind Sie öfter hier?“
„Wenn ich öfter hier wäre und Sie auch, dann müssten Sie sich eigentlich an mich erinnern können und ihre Frage wäre beantwortet. Wenn ich nicht oft hier wäre, Sie aber, dann müssten Sie die Antwort eigentlich wissen, weil sie mich nie gesehen haben, und ihre Frage wäre unsinnig. Ihre Frage hat nur Sinn, wenn ich oft hier wäre, Sie aber nicht, was für meinen Teil aber nicht der Fall ist. Frage beantwortet?“
„Für meinen Teil schon“, antwortet sie etwas zu schnell für seinen Geschmack. Seine Erfahrung lehrte ihn, dass man länger brauchte, um das zu verstehen, falls sich überhaupt jemand diese Mühe machte. Meistens war die Konversation danach beendet. Deshalb fragt er gleich nach: „Die Frage für Ihren Teil beantwortet?“
„Nein: Für meinen Teil ist es der Fall, dass ich auch nicht so oft hier bin, was Sie übrigens in Ihrer Kalkulation nicht berücksichtigt hatten.“
Ein Aha war alles, was er darauf entgegnen kann. Nicht übel, denkt er, und fasst nach einigen Sekunden nach: „Wenn ich mich bei dieser Gelegenheit vorstellen darf: Mein Name ist Bernhard, Thomas Bernhard.“
Der alte Trick: Damit testete er, ob sich jemand für Literatur interessiert. „[…] und völlig unmöglich hätte es mir geschienen, ein Mädchen länger als eine Stunde zu lieben, das kaum ein Buch gelesen hatte, kaum wußte, was Lesen ist […]“, fällt ihm dazu wieder aus Hesses „Steppenwolf“ ein. Der Trick funktionierte immer wieder: Wie oft hatte ein Gegenüber darauf schon ernsthaft mit „Angenehm, ich heiße …“ reagiert!
„Angenehm, ich heiße Marieluise Fleißer.“
Er stutzt, beinahe wäre ihm der Unterkiefer nach unten gefallen. „Welch ein schöner und seltener Vorname! Marieluise …“ ist alles, was ihm zunächst dazu einfällt. Ein sarkastischer Unterton ist jedoch nicht zu überhören.
„So selten ist er gar nicht mal“, entgegnet sie leichthin, wobei es ihm scheint, als ob die Süffisanz diesmal auf ihrer Seite ist, „waren auch einzeln eine Weile Modenamen.“
„Sie schreiben ihn also mit Bindestrich?“ Ein letzter Test. Oder ein vorletzter …
„Ohne, also zusammen. Und Sie? Thomas Bernhard mit d oder mit dt?“ Sie lächelt ihn an und blickt mit ihren sehr hellblauen Augen geradewegs in seine.
Er hustet. „Mit dt.“
„Ach, schade, ich dachte, Sie seien der Schriftsteller!“ Der Schalk blitzt ihr direkt aus den Augen.
„Der inzwischen leider verstorben ist“, kontert er trocken, „wie übrigens auch Frau Fleißer.“
„Ich weiß. Leider …“
„‚Leider‘, dass Sie wissen, dass sie tot sind, oder ‚leider‘, dass sie tot sind?“
„Letzteres. Obwohl: Zu viel Wissen schadet manchmal auch …“ Sie lächelt immer noch.
„Das haben Sie jetzt aber nicht aus dem ‚Steppenwolf‘, oder?“, fragt er mit einem kurzen Deuten mit dem Glas in seiner Hand auf das Buch, das vor ihr auf dem Tresen liegt.
„Unter anderem auch aus dem ‚Steppenwolf‘.“
„Aha. Und wie weit sind Sie inzwischen mit der Lektüre unter anderem dieses Buches gekommen?“ Er ist nicht wirklich daran interessiert; seine Gedanken, hervorgerufen durch seine eigene vorherige Lektüre, beschäftigen ihn noch zu sehr.
„Unter anderem hat Harry Haller gerade das Mädchen in einer Bar kennen gelernt.“ Ihr Lächeln scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen.
Er braucht ein neues Glas Wein. Und eine Zigarette. Dringend!
(Fortsetzung: Ein dummes Mädchen lieben)
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