Sommersonnenwende
Die Tage werden kürzer, die Nächte wieder länger. Sommersonnenwende.
Ob das einen Unterschied macht, denkt er. Als ob meine Nächte nicht ohnehin schon lang genug sind! Nächte, die er vor seinem Rechner verbrachte, um zu arbeiten. Oder, wenn er davon langsam genug hatte, zu seinem Vergnügen. Oft bis morgens. Nun, dann halt kein Vogelgezwitscher beim Zubettgehen mehr.
Er beschließt den Pullover anzuziehen, es wurde langsam kühl. Es wurde ihm überhaupt schneller kalt. Früher konnte er mit Hitze und Kälte besser umgehen, sie machten ihm kaum etwas aus. Früher! Aber er war inzwischen nicht mehr der Jüngste …
Seit er und seine Frau sich trennten, war er alleine geblieben. Sicher, hier und da mal eine Liebschaft, eine Affäre, aber nie von Dauer. Sie wurden immer seltener, bis sich keine mehr einstellte. Über seiner Arbeit war er einsam geworden. Zunächst einfach zu oft allein, war aus dem Alleinsein irgendwann Einsamkeit geworden. Wenn er sich früher vor Freunden und Bekannten kaum retten konnte, gab es nun kaum jemanden mehr.
Er setzt sich auf eine Bank, um eine Zigarette zu rauchen. Und um wieder zu Atem zu kommen. Ja, er wurde kurzatmiger. Seine Kondition ließ nach. Dass das auch an den Zigaretten lag, wusste er. Neben dem Bewegungsmangel. Sport würde ihm gut tun! Aber die Vorstellung, in irgendeinem Sportstudio Gewichte zu heben oder in dem Park, in dem er gerade sitzt und den er gern aufsucht, um zu spazieren, laufend seine Runden zu drehen, entlockt ihm selbst in Gedanken nur ein Kopfschütteln.
Genüsslich zieht er an seiner Zigarette, während wieder einer dieser Jogger dicht an ihm vorbeirennt. Zu dicht, wie er findet: Der Weg ist doch breit genug! Und warum laufen die Leute überhaupt, wenn sie dabei jede Abkürzung nehmen, die sich ihnen bietet? Er hat nicht übel Lust, ihm beim nächsten Mal, wenn er wieder zu dicht an ihm passiert, eine volle Ladung Rauch ins Gesicht zu blasen. Oder dir ein Bein zu stellen, schimpft er in Gedanken. Er braucht nur ein Bein leicht vorzustrecken, so nah hastete der Läufer an ihm vorbei. Geschieht ihm recht, wenn er mir mit seinem Ertüchtigungsdrang zu nahe kommt!
Ja, er war vereinsamt. Die körperliche Nähe anderer Menschen war ihm zuwider geworden. Sein Umgang beschränkte sich auf den wenigen mit Kollegen, private Einladungen nahm er nur sehr ungern an oder sprach solche aus. Sein früherer Charme, der nur noch in wenigen Augenblicken aufblitzte, war einem feinen Sarkasmus gewichen, seine Manien wurden immer augenfälliger. Selbst seine Kleidung, auf die er einst viel Wert legte, wurde nachlässiger. Nicht ungepflegt, schmutzig oder gar zerrissen, nur nachlässiger. Man begann, ihn zu meiden. Und er mied die anderen.
Ein Steppenwolf, fällt ihm ein. Wie hatte er dieses Buch geliebt! Der Gedanke, den Harry Haller vor dem Spiegel hat, während er sich rasiert, hatte ihn nie mehr losgelassen: beim Rasieren einfach „verunglücken“. Eine Option fürs Leben. Oder besser gesagt: für den Tod, korrigiert er sich lächelnd.
Aber noch ist es nicht so weit. Andererseits: Was hat er noch zu erwarten? Gibt es da noch etwas? Eine unbestimmte Hoffnung? Und doch: Er glaubt nicht mehr daran, jemals wieder eine Frau für eine zeitweilige Liebschaft kennenzulernen, geschweige denn einer letzten großen Liebe zu begegnen. Liebespaare beobachtete er mit einem mitleidigen Lächeln und die vielen Schwangeren in seinem Wohnviertel mit Missvergnügen. Wie kann man nur, fragte er sich. Geht sowieso alles zu Ende. Und wieder irgendwelche Bengel öder Gören mehr, die ihn im Park durch ihren Lärm beim Lesen stören werden! Und dazu die wirtschaftliche Situation, die des Planeten … wie egoistisch! Können sich auch einen Hund zulegen, wenn sie unbedingt etwas zum Streicheln brauchen! Obwohl: Hunde kann er genauso wenig leiden. Diese Ausscheidungen überall, außerdem scheinen ihm alle Hundebesitzer eine Macke zu haben. Dieses Gedöns um die armen Tierchen, die doch nur spielen wollen … lächerlich!
Er zieht eine neue Zigarette aus seiner Packung und zündet sie an. Zusammen mit gutem Essen und teurem Wein eine seiner letzten Vergnügen. Die Schachtel hatte sich während all der Jahre nicht verändert, nur dieses unansehnliche weiße Rechteck mit Trauerrand und dem Satz über die mögliche Tödlichkeit des Rauchens stört die einst vollkommene Ästhetik. Als ob das Leben selbst nicht tödlich wäre, schüttelt er den Kopf, bevor er husten muss.
„Sie rauchen zu viel“, hört er eine weibliche Stimme. Sein Blick schwenkt auf die Frau, die auf der Nachbarbank sitzt und über ihrem Buch zu ihm herüberblickt. Er mustert sie: keine Schönheit, aber hübsch. „Und Sie sprechen zu viel“, gibt er ihr zur Antwort. „Vor allem, wenn Sie lesen! Lassen Sie sich in Ihrem Buch nicht stören …“
Er betrachtet das Gespräch als beendet, aber er kann nicht umhin zu versuchen, den Titel oder wenigstens den Autor des Buchs herauszufinden. Sie bemerkt sein Schielen und hält das Buch in die Höhe. „Der Steppenwolf“, liest er auf der Vorderseite, nachdem er seine Brille aufgesetzt hat. Er ist sprachlos, nicht nur, weil er wieder husten muss.
Es wird kühl, befindet er, und macht sich auf den Heimweg, während gerade die Sonne in einem herrlichen Rot untergeht, das einen sonnigen nächsten Tag ankündigt. Sommersonnenwende, geht es ihm nicht aus dem Kopf. Und: Soso, den „Steppenwolf“ liest sie also …
(Unter anderem inspiriert von der Diskussion zu Hauptberuflich Optimist: „Heilmittel gegen andauernden Liebeshunger“; Fortsetzung: Der Steppenwolf)
Über einen anderen Kanal habe ich eine Zuschrift erhalten, die einige interessante Aspekte enthält, sodass ich mich entschlossen habe, sie hier zu veröffentlichen, wobei ich hoffe, dass dies dem Verfasser recht ist und er sich auch noch persönlich meldet:
„Datum: 23 Jun 2009, 11:24
Betreff: RE: Freundschaft
Hallo Ronald,
gerade kehre ich von deiner Blogseite zurück, nachdem ich die „Sommersonnenwende“ gelesen habe. Absolut klasse geschrieben!
Ich habe zwar auch gelesen, dass nicht alles bei dir autobiographischen Hintergrund hat, aber ich habe in deinen Beiträgen schon einen immer wiederkehrenden Tenor oder Trend beobachtet, von dem ich denke, dass er dir ungefähr entsprechen könnte und auch in dieser Geschichte vorherrscht.
Und die Denk- und Betrachtungsweise deines Protagonisten in „Sommersonnenwende“ entspricht in vielen Punkten meiner eigenen. Vielleicht nicht ganz so negativ als Conclusio, da ich immer noch nicht {„nicht“ von mir eingesetzt, Tippfehler? Der Blog-Betreiber] die Hoffnung aufgegeben habe und dies auch nach außen hin von mir gebe – aber das hat dein „Held“ ja letzten Endes auch nicht; er versteckt es nur etwas mehr.
Ich denke auch, dass die von dir beschriebene Problematik ein Lebenszustand ganz vieler Menschen ist. Sie wird bloß aus den verschiedensten, individuellen Gründen nicht so publik gemacht. Aber sie bringt auch ohne aktuellen Handlungsbedarf genug Futter für gesellschaftlichen Unmut mit, der sich in der Zukunft mal entladen könnte.“
Sehr schön geschrieben, die Geschichte gefällt mir sehr gut. Ich kann sie mir bildhaft vorstellen.
Und sie lässt soviel offen. Wo geht er hin? Was macht er? Trifft er sie wieder? Packt er sein letztes Stück Hoffnung in einen Rucksack und begibt sich damit auf eine Reise in eine andere Gesellschaft, in eine Welt außerhalb der Einsamkeit?
Über eine mögliche Fortsetzung würde ich mich sehr freuen.
Ich wünsche dir ein tolles Wochenende 🙂
Liebe Grüße, Lisa
P.s: Danke für die Verlinkung!
Keine Ursache! Aber Fortsetzung? So weit hatte der Autor noch gar nicht gedacht, und die ursprüngliche Geschichte hatte auch ein anderes Ende ohne die Frau.
Ohne dieses Ende wäre die Geschichte wahrscheinlich sehr traurig, denn erst das Ende vermittelt einen Hauch von Hoffnung. Ein Mann ganz ohne Hoffnung? Das wäre sehr traurig.
Ich freue mich auf die Fortsetzung, schön, wenn du schon Ideen hast 🙂
Bis zum nächsten Mal, auf jeden Fall!
Hallo Ronald,
vielen Dank, dass du meinen Beitrag korrigiert hast.
Es ist tatsächlich ein Tippfehler, obwohl sich mit dem Wort ’nichts‘ in der Sprache viele Besonderheiten verbinden. Zum Beispiel hat man festgestellt, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter dieses Wort gar nicht wahrnehmen, weil sie davon kein inneres Abbild erzeugen können (auch ein Grund dafür, dass Eltern meinen, ihr Kind sei ungehorsam – und bewirken mit ihrer Reaktion auf das Kindverhalten nur Verwirrung).
Wer weiß, wo meine Gedanken da gerade wieder waren…?
Aber ich schweife ab, zumal ich während dieses Kommentars auch noch zu einem Gedicht mit dem Titel ‚Nichts‘ inspiriert wurde.
Ich werde daher entweder später noch einmal etwas dazu schreiben – oder ich warte die Fortsetzung ab….
Gruß
Nachdem ich jetzt auch die Entstehungsgeschichte der Sommersonnenwende gelesen habe, würde ich mich als ‚allein‘ aber nicht ‚einsam‘ bezeichnen.
Du schreibst aber auch, es wäre das ‚Porträt eines einsamen Menschen‘ – Warum finde ich mich darin dann an so vielen Stellen wieder?
Gibt es nicht doch zu viele Schnittstellen zwischen diesen beiden Zuständen? Oder ist das eine leicht mit dem anderen verwechselbar – je nachdem, wie man sich in der eigenen Selbsteinschätzung irrt (oder auch irren will)?
Tausend Bekannte, aber keinen echten Freund…?
Wenn das Leben nur einfach wäre, könnte es ja jeder bewältigen.
Ich hätte gerne die erste Fassung gelesen, ohne die Frau!
Wenn du hier allerdings keine Fortsetzung posten möchtest, muss ich immer wieder hin und her zappen.
Ich habe dieses mit sehr viel Hoffnung auf gute Literatur gelesen und bin nicht enttäuscht worden!
Danke, dass du uns daran teil haben lässt!