Die Glocke
Die Glocke erzählt.
Vor langer Zeit wütete in der kleinen Stadt eine Pest.
Gleich einer schwarzen Wolke des Todes bewegte sie sich durch den kleinen Ort mit dem Schloss auf einem Hügel. Die Menschen wurden dahingerafft wie Blätter im Sturm. Wieder fuhr ein Totenzug durch die Gassen, umringt von verhüllten Mönchen. Eine Frau brach weinend zusammen …
Die Glocke schlägt.
Ausgemergelte Gestalten saßen herum, rollten mit den Augen nach oben, als ob sie wüssten, in welche Richtung ihre Seele einmal entschwinden wird. Nicht alle starben, nein, nur die Armen, für die Reichen war genug Platz im Schloss, wohin die Pest wegen der Mauern nicht drang. Viele zogen siechend vor die Festung, hämmerten mit ihren knochigen Fäusten gegen das Tor, und das Echo ihres Klopfens und des Klagens schallte durch die engen Gassen.
Die Glocke schlägt weiter.
Sie schlug fast unaufhörlich hinter den Mauern der Burg. Sollte der Klang Hilfe herbeirufen oder Reisende auffordern, dieses Gebiet zu meiden?
Vor den Toren lagerten die Sterbenden. Im Flackern des Lichts der Fackeln sahen ihre Köpfe mit den eingefallenen Wangen und Augenhöhlen schon wie Totenköpfe aus. Der Gestank ihrer verwesenden Leiber drang selbst durch die Ritzen der Mauern, doch oben auf den Zinnen standen sie und lachten über den Irren von einem Mann.
Tatsächlich, ein Mann, dem sie alle ansahen, dass er aus gutem Hause und noch gesund war, half den Sterbenden mit Wasser, Worten und dem Zudrücken ihrer gebrochenen Augen. Halb ohnmächtig vor Zorn über die Sturheit der Adligen, die Hände zu Fäusten geballt und mit Tränen auf den Wangen tat er sein notdürftiges Werk.
Und die Glocke schlägt weiter.
Viele Tage und viele, viele Tote später kehrte wieder der Sommer ein und ein frischer Wind wehte über die Ebenen. Die Pest war gegangen. Doch
die Glocke schwieg.
Kein Läuten, kein Lachen, kein Grölen und kein Rauch drang hinter dem Gemäuer des Schlosses hervor. Seit Tagen kam niemand aus der Burg heraus, seit Tagen ging niemand hinein.
Auch der einsame Helfer ward nie mehr gesehen, und die Menschen wunderten sich, was wohl passiert war.
(Inspiriert von „The Black Plague“ von Eric Burdon & The Animals. Siehe hier beispielsweise auch „Es kam eine dunkle Wolke herein“!)
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