Mehrheit
Wie aktuell doch Klassiker, hier Friedrich Schiller aus: „Demetrius“, erster Aufzug, zitiert nach Projekt Gutenberg-DE, über „Mehrheit“ immer wieder sein können!
Die Mehrheit?
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
Um Brot und Stiefel seine Stimm verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.
(Siehe zum Thema hier auch „Die Mehrheit und die (Nicht-)Raucher“!)
Traurige Sicht, die Wahres enthält
„Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet“ enthält aber die Unterstellung, dass die Mehrheit (oder die von ihr gewählten) immer unverständig sind und daher fehlerhaft entscheiden… Ob man pauschalieren kann?
„Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen“, ist nicht in unserem Sinne demokratisch, da wir uns ja eigentlich stolz wähnen dürfen, dass unsere Stimmen gleiches Gewicht haben. Wer würde heute entscheiden, welche Stimmen welches Gewicht haben, wenn nicht alle gleich sind.
Oder verstehe ich da was falsch?
Das Zitat ist natürlich aus dem Zusammenhang gerissen, aber darüber hinaus trotzdem auch für sich alleinstehend von einer gewissen Gültigkeit.
Zum Inhalt von „Demetrius“ in Kürze: Im polnischen Parlament wird ein Mann gehört, der behauptet, der tot geglaubte Sohn Dmitri (= Demetrius) Iwanowitsch des Zaren Iwan IV. zu sein — fälschlicherweise, wie sich später herausstellen wird! In einer flammenden Rede fordert er, nachdem er vorgebliche Beweise für seinen Rechtsanspruch vorgelegt und diese geprüft wurden, das Parlament auf, ihn zu unterstützen, um als rechtmäßiger Erbe den russischen Zarenthron besteigen zu können, worauf dieses mehrheitlich beschließt, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Einzig Fürst Sapieha, von dem dieses Zitat und weitere zitierenswerte Sätze stammen, bleibt misstrauisch und warnt vor einer übereilten Aktion. In diesem Zusammenhang hat tatsächlich Unverstand entschieden, und „die Stimmen wägen und nicht zählen“ meint, dass die Gegenargumente nicht ausreichend geprüft wurden, um diesen Feldzug zu verhindern.
„Pauschalieren“ kann man zwar sicherlich nicht, aber kennt man dies nicht zur Genüge aus der politischen Geschichte?
„Stimmen wägen und nicht zählen“ ist aber auch außerhalb des Kontextes des Dramas tatsächlich möglich, wie der Autor aus eigener positiver Erfahrung weiß. Allerdings bedarf es dazu kleinerer politischer und sozialer Gebilde, wobei diese sich auch als „Zellen“ bezeichnen lassen: Gebilde, in den sozusagen „urdemokratisch“ oder, man könnte auch sagen: „anarchistisch“ im wahrsten Sinn des Wortes, solange diskutiert wird, bis ein Konsens oder wenigstens der kleinste gemeinsame Nenner gefunden wird.
Der Autor hat übrigens nachträglich noch einen Verweis zum Projekt Gutenberg-DE in den Beitrag eingestellt, sodass Interessierte, die nicht über den „Demetrius“ verfügen, ihn lesen können.
aufs Auge!