„Marieluise“
(Sommersonnenwende, sechzehnter Teil)
Er staunte nicht schlecht, als er den Saal betritt. Die Musik war abgeschaltet worden, und im Dämmerlicht erkennt er verteilt noch einige Personen, aber bei Weitem nicht alle, die vorher den Saal füllten, an den Tischen, die mit einigen Stühlen zum Teil wieder an ihre Plätze zurückgestellt worden waren. Besonders staunenswert ist jedoch, dass er „Marieluise“ und die schöne rothaarige Frau zusammen an einem Tisch in einer der Ecken sitzen sieht. Andererseits: So staunenswert ist das eigentlich gar nicht, denn durch die Anspielung des Wirts einerseits und durch eigene Vorahnungen andererseits kommt es ihm vor, als sei auch das geplant und abgesprochen. Ein vorsichtiger Rundumblick in den Saal bestätigt ihm aber wenigstens, dass keine der „Damenwahlen“ von vorher mehr anwesend ist, was ihn etwas beruhigt.
Er kommt sich unglaublich schüchtern vor, gleichzeitig drängt es ihn aber nach Aufklärung. Die beiden Frauen winken ihm zu. Er trottet näher. „Was geht hier vor?“, fragt er forscher, als er sich fühlt.
Die schöne rothaarige Frau steht auf. „Ich glaube, ich lasse euch besser allein.“ Sie geht langsam an ihm vorbei. Er meint, noch ein Zwinkern zu erkennen, das ihm gewidmet ist, und weiß nicht, ob er sich setzen oder besser (und sicherheitshalber!) stehen bleiben soll.
„Setz dich doch“, sagt „Marieluise“, als hätte sie seine Gedanken erraten. Aber das kennt er ja schon: Der ganze Abend kam ihm so vor, als würde irgendeine Macht seine Gedanken erraten. Seine tiefsten und intimsten noch dazu!
„Das wird mir langsam alles zu viel, Frau ‚Marieluise Fleißer‘!“, entrutscht es ihm erneut heftiger, als ihm zumute ist.
„Das glaube ich“, sagt sie ruhig und mit einem sanften Lächeln, das ihn beruhigen soll.
Nachdem er sich ihr gegenüber gesetzt hat, fährt sie ebenso ruhig fort: „Ob du es glaubst oder nicht, aber weder meine Freundin von eben noch ich haben mit deinem Abend etwas zu tun. Ich meine: mit dem Verlauf deines Abends — außer natürlich, dass ich dir eine Einladung habe zukommen lassen“, fügt sie an. Und bevor er einen Einwand, nein, viele Einwände eigentlich, hervorbringen kann: „Wir haben hier lediglich eine gewisse Stimmung geschaffen, die es unseren, das heißt: eigentlich meinen Gästen — aber meine Freundin hat mir sehr geholfen, alleine hätte ich das gar nicht gepackt! — erlaubt, ihren Abend ganz nach ihren Wünschen zu gestalten.“
Nachdem er eine Weile geschwiegen und nach seinen Zigaretten gesucht hat, fragt sie: „Hast du einmal ‚Solaris‘ von Stanisław Lem gelesen oder eine der beiden Verfilmungen gesehen? Da gibt es doch diesen Planeten, auf dem sich verdrängte Geschehnisse und ihre Personen materialisieren. So in etwa kannst du dir das vorstellen. Und du hast gesehen, was du sehen wolltest. Oder musstest. Oder das magische Theater im ‚Steppenwolf‘, da passieren auch seltsame Dinge! ‚Nur für Verrückte‘ …“, ergänzt sie kichernd.
Er weiß nicht, ob er aufstehen und gehen oder bleiben soll. „Eine Reinigung?“, entfährt es ihm, ohne recht zu wissen, wie er darauf kommt. Er fühlt sich einfach nur leer. Dann fällt ihm ein, was die beiden Jungs mit dem Joint auf dem Weg hierher über sie gesagt hatten: „Muss Nutte sein.“ Er erzählt es ihr. Sie lacht. „Da haben die beiden wohl auch das gesehen, was sie in mir sehen wollten! Bei der Gelegenheit: Was siehst du eigentlich in mir? Und mit der ‚Reinigung‘ hast du gar nicht so unrecht. Man muss bereit sein und mit seiner Vergangenheit abgeschlossen haben, wenn man eine neue Beziehung, eine neue Liebe eingehen möchte!“
(Fortsetzung: Wissen)
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„Marieluise“ — Ein Kommentar
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