Der Engel von Hamburg
Es gab viele Menschen, die während der Nazidiktatur jüdischen Mitmenschen zur Flucht verhalfen. Die Brasilianerin Aracy de Carvalho war eine von ihnen. Für die Geflüchteten und deren Hinterbliebene sollte sie „der Engel von Hamburg“ werden. Ein Film beleuchtet ihr Leben.
Es gab viele Menschen, die während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft jüdische Mitmenschen versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen. Die meisten davon blieben in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Die Brasilianerin Aracy de Carvalho war eine von ihnen. Für die Geflüchteten und deren Hinterbliebene sollte sie jedoch „der Engel von Hamburg“ werden.

Ausschnitt aus einem Bildschirm-Schnappschuss aus dem Film „ARACY – Der Engel von Hamburg“. Das Foto zeigt sie an ihrem Arbeitsplatz im brasilianischen Konsulat in Hamburg.
Eine Brasilianerin in Hamburg
Aracy de Carvalho, geboren 1909 als Aracy Moebius de Carvalho als Tochter eines Portugiesen und einer Deutschen, nach ihrer Heirat mit dem Schriftsteller João Guimarães Rosa Aracy de Carvalho Guimarães Rosa, kam 1934 nach der Trennung von ihrem deutschstämmigen Ehemann als alleinerziehende Mutter mit ihrem fünfjährigen Sohn Eduardo nach Hamburg. In ihrer Situation erfuhr sie von der brasilianischen Gesellschaft nur Ausgrenzung.
In Hamburg lebte eine Tante von ihr, und zuvor hatte sie bereits mit ihrer Mutter Deutschland bereist. Da sie mehrere Sprachen, darunter auch Deutsch, fließend sprach, fand sie 1936 eine Anstellung im brasilianischen Konsulat in Hamburg. Dort stieg sie schnell zur Leiterin der Pass- und Visastelle auf.
Die Visabestimmungen umgangen
Nachdem das ganze Ausmaß der Judenverfolgung und das damit verbundene Leid der jüdischen Bevölkerung (auch für sie) immer offensichtlicher wurden, erkennt sie die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes. Ihre Erfahrungen als getrennt lebende Frau mit Kind in Brasilien hatten sie für Ausgrenzung sensibilisiert. Sie beginnt, aktiv Jüdinnen und Juden in Deutschland zu helfen. Dabei ignoriert sie die Bestimmungen ihrer brasilianischen Heimat unter dem Staatspräsidenten Getúlio Vargas. In geheimen Richtlinien ist Juden nämlich seit 1937 die Einwanderung verboten. Sie verschweigt jedoch in den Visaanträgen, dass es sich um Juden handelt.
Ab Oktober 1938 wird dies jedoch unmöglich, denn die deutschen Behörden kennzeichnen sie nun mit einem roten J im Reisepass. Sie rät den Verfolgten, Touristenvisa zu beantragen, womit die Einreise einfacher möglich ist.
João Guimarães Rosa: Freund, Helfer und Ehemann
1938 lernte sie im Konsulat den Diplomaten (damals Vizekonsul in Hamburg), Arzt und Schriftsteller João Guimarães Rosa kennen. Er selbst hat seine Ehefrau und mehrere Kinder verlassen und unterstützt sie bei ihren Aktivitäten im Untergrund. Beide eint u. a. ihre Liebe zur Poesie. Sie verlieben sich ineinander und heirateten 1940 noch in Deutschland.
Als Getúlio Vargas, zunächst Anhänger von Hitler, nach der Versenkung mehrerer brasilianischer Handelsschiffe durch die deutsche Kriegsmarine aber zu den Alliierten übertritt und mit diesen Deutschland den Krieg erklärt, reist das Ehepaar 1942 aus Hamburg ab und kehrt nach Brasilien zurück.
Der Engel von Hamburg
Wie vielen Menschen sie das Leben rettete, ist unklar. Ihre Anzahl beträgt nach Schätzungen zwischen 80 und mehreren hundert. 1982 verleiht ihr deshalb die Gedenkstätte Yad Vashem den Status einer „Gerechten unter den Völkern“ (siehe Aracy de Carvalho Guimarães Rosa auf der Website von Yad Vashem [englisch]).
Damit ist sie bis heute die einzige Brasilianerin und nur eine von zwei Brasilianern überhaupt (der andere ist Luis Martins de Souza Dantas, der während der deutschen Besetzung Frankreichs als brasilianischer Botschafter viele Verfolgte des Naziregimes durch die Verteilung von Visa rettete), denen diese Ehre zuteil wurde. Zudem gehört sie zu den Geehrten des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C.
In einem Zeitungsinterview sagt sie später, dass sie gern noch mehr getan hätte. Für die Geflüchteten und deren Hinterbliebene ist sie o anjo de Hamburgo, „der Engel von Hamburg“. Ein Dokudrama erzählt die Geschichte einer Frau, die keine Heldin sein wollte, aber unzähligen Menschen das Leben rettete:
- Arte: „Aracy – Der Engel von Hamburg“ (Gabriele Rose, NDR 2020, 90 Minuten; abrufbar bis zum 29. November 2032).
Sie starb übrigens hochbetagt, allerdings an Alzheimer erkrankt, im Alter von 102 Jahren am 3. März 2011 in São Paulo. João Guimarães Rosa starb bereits 1967 an einem Herzinfarkt. Er widmete ihr 1956 sein bedeutendstes Werk „Grande Sertão“. Sie wurde an seiner Seite im Mausoleum der Academia Brasileira de Letras (ABL: Brasilianische Akademie der Literatur) in Rio de Janeiro bestattet.
(Siehe hier etwa auch „Das Drama um die St. Louis“, eine andere Geschichte von Flucht!)
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