Das Drama um die St. Louis
Eine Irrfahrt auf hoher See
Im Mai vor 80 Jahren versuchten mehrere Hundert jüdische Bürger/-innen Deutschland zu verlassen, indem sie ein Schiff charterten: die „MS St. Louis“. Doch dort, wohin sie wollten, kamen nur die allerwenigsten an. Auf vielen Umwegen führte ihr Weg zurück nach Deutschland – und in die Vernichtungslager!
Am 13. Mai 1939 versuchen 900 fast ausschließlich jüdische Mitbürger/-innen, Deutschland von Hamburg aus zu verlassen. Ein halbes Jahr nach den Ausschreitungen in der „Reichspogromnacht“ wollen sie, mit Touristenvisa für Kuba, für die sie bereits bezahlt hatten (!), und größtenteils mit gültigen Papieren der Tourismus- und Einwanderungsbehörde ausgestattet, vor den Nationalsozialisten flüchten. Sie haben ein Schiff gechartert: den HAPAG-Dampfer „St. Louis“. Ihr Ziel: Havanna auf Kuba. Dort wollen sie abwarten, bis sie Visa für die USA erhalten. Für die Passagiere ist es die letzte Gelegenheit, dem Terror der Nationalsozialisten zu entkommen.
Doch die Flüchtlinge kommen niemals ans Ziel: Die kubanischen Behörden, später auch die USA, die Dominikanische Republik und Kanada, verweigern ihnen die Einreise.
Die Irrfahrt beginnt

Passgiere am und im Schwimmbecken auf der „St. Louis“. Für viele der Flüchtenden eine völlig neue Erfahrung, da deutsche Schwimmbäder „Für Juden verboten“ waren! (National Archives of Estonia/ Wikimedia Commons)
Nach einem Aufenthalt in Cherbourg am 15. Mai, wo weitere Flüchtlinge an Bord kommen (deren Gesamtzahl erreicht nun 937 Passagiere), geht die „St. Louis“ nach einer zweiwöchigen Seereise am 27. Mai 1939 in der Bucht von Havanna vor Anker. Trotz zuvor erfolgter Zusage weigert sich die kubanische Regierung, das Schiff am Pier anlaufen zu lassen. Eine neue Regierung ist im Amt, die kubanischen Visabestimmungen für Einwanderer waren kurz zuvor geändert worden. Außerdem soll der kubanische Minister, der für die Visaerteilung zuständig war, die Gebühren in die eigene Tasche gesteckt haben. Lediglich 29 Passagiere dürfen in Havanna von Bord gehen. Ein Passagier begeht einen Suizidversuch, weitere drohen das Gleiche zu tun. Währenddessen rudern bereits in Kuba ausharrende Angehörige und Freunde der Flüchtenden um das Schiff herum, um mit den Passagieren Kontakt aufzunehmen. Gleichzeitig mit Polizeibooten, die weitere Suizide oder „Fluchtversuche“ durch einen Sprung von Bord verhindern sollen.
Exkurs: die Rolle des Otto Schiendick und der Nationalsozialisten
Wie bereits erwähnt, befindet sich auch ein überzeugter Nazi an Bord. SS-Ortsgruppenführer Otto Schiendicks Aufgabe besteht darin, geheime Dokumente über das US-Militär von einem Mittelsmann auf Kuba abzuholen und nach Deutschland zu bringen. Bereits vor der Ankunft in Havanna fällt er durch lautes Singen von Nazi-Liedern, das Verteilen des Nazi-Kampfblatts „Der Stürmer“ und dadurch unangenehm auf, weil er den Sarg eines an Bord verstorbenen Mannes, der zur Vermeidung von Komplikationen mit Kuba ein Seebegräbnis erhalten sollte, in eine Hakenkreuzflagge hüllen wollte. Ein Ansinnen, dem sich Kapitän Schröder verweigert, indem er eine große HAPAG-Flagge benutzt.
Der Austausch der geheimen Dokumente
Damit der Austausch der Dokumente zwischen dem Agenten auf Kuba und Schiendick stattfinden kann, hätte die „St. Louis“ in Havanna anlegen müssen. Eine Option wäre gewesen, der Besatzung Landurlaub zu erteilen, sodass sich auch Schiendick unter die Besatzung hätte mischen können. Kapitän Schröder weigert sich jedoch zunächst. So muss der Agent einen Weg zum Schiff finden oder einen Weg, um Schiendick vom Schiff zu bekommen. Als der Agent schließlich doch an Bord gehen darf, allerdings ohne die Dokumente, zwingt dieser den Kapitän dazu, die Besatzung an Land zu lassen, indem er zu erkennen gibt, dass die Gestapo involviert sei. Die Übergabe der Dokumente kann so stattfinden. Von nun an übt Schiendick immer wieder Druck auf Schröder aus, ohne Zwischenstopp in den USA nach Deutschland zurückzukehren, weil er befürchtet, mit den geheimen Dokumenten erwischt zu werden.
Nazis auf Kuba und Goebbels
Vorher schon sollen deutsche Agenten, die sich bereits auf der Insel befanden, versucht haben, Kuba zum Antisemitismus aufzuhetzen. Auch gibt es Gerüchte darüber, dass Propagandaminister Goebbels persönlich involviert war. Würde die Aufnahme der Flüchtigen scheitern, wäre es ein propagandistischer Triumph, der zeige, dass niemand auf der Welt die Juden haben wolle.
Kreuzen zwischen Kuba und Florida
Wenige Tage später muss das Schiff Kuba verlassen. Es kreuzt zwischen Kuba und Florida, während Kapitän Schröder, die HAPAG und jüdische Organisationen sogar US-Präsident Franklin D. Roosevelt persönlich um Hilfe bitten. Auch die Dominikanische Republik hatte ein Aufnahmegesuch abgelehnt, der Plan einer Landung auf der kubanischen Isla de Pinos (heute: Isla de la Juventud) sich zerschlagen. Kapitän Schröder erwägt gar eine illegale Landung an der Küste von Florida, doch die US-Küstenwache blockiert diesen Versuch. Auf innenpolitischen Druck hin lehnt Roosevelt das Anlegen des Schiffes in den USA und die Einreise der Flüchtlinge ab. Wie auch Kanada, das nur zwei Tage Seereise entfernt liegt.
„Kapitän, wohin fahren Sie uns?“ Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich diese Frage nicht beantworten. (Gustav Schröder: Heimatlos auf hoher See, Berlin: Beckerdruck-Verlag 1949; siehe unten)
Inzwischen verfolgt die ganze Welt die Nachrichten über das Drama um die „St. Louis“.
Die Rückkehr nach Europa
Nach einer mehrwöchigen Irrfahrt muss Kapitän Gustav Schröder auf Anweisung der Reederei die Flüchtlinge nach Europa zurückbringen. Auch Proviant, Wasser und Treibstoff reichen nur noch für höchstens zwei Wochen. Während der Rückfahrt versuchen Passagiere, das Kommando selbst in die Hand zu nehmen, und drohen mit Meuterei, Sabotage und Massenselbstmord. Gerüchte über die Anwesenheit von SS und Gestapo an Bord verschlimmern die Stimmung noch zusätzlich. Schröder lässt ein jüdisches Bordkomitee gründen und nächtliche Wachen zur Suizidverhinderung einrichten. Schließlich erwägt der Kapitän sogar, eine Havarie vor der britischen Küste vorzutäuschen, damit seine Passagiere in England aufgenommen werden. Ein Steuermann (andere Quellen sprechen von einem baltischen Küchengehilfen, der sich in eine Jüdin verliebt hatte und nach einer Rückkehr nach Deutschland um beider Leben fürchtete) begeht Suizid.
Nach unentwegt geführten Verhandlungen des Kapitäns, der HAPAG und jüdischen Organisationen mit Regierungen und Diplomaten und der Weigerung des Kapitäns, die Flüchtlinge nach Deutschland zurückzubringen, lässt die belgische Regierung sie am 17. Juni 1939 in Antwerpen an Land gehen. Sie werden auf Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt.
Erneut im Herrschaftsgebiet der Nationalsozialisten
Die Schutzsuchenden sind zunächst in Sicherheit. Doch mit Ausnahme Großbritanniens sind diese Länder bereits ab 1940 von der Wehrmacht besetzt. Die Geflüchteten geraten somit erneut in das Herrschaftsgebiet der Nationalsozialisten und werden nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Mauthausen und Sobibór deportiert, wo die meisten von ihnen ermordet werden. Andere sterben in Internierungslagern, bei Versuchen sich zu verstecken oder zu flüchten. Einer der Passagiere, der nach Großbritannien wollte und sich bereits eine ganze Weile in London aufhielt, starb kurioserweise bei einem der vielen deutschen Raketenangriffe auf diese Stadt. Nach neueren Forschungen wurden insgesamt 254 der Passagiere ermordet.
Den Flüchtenden auf zwei weiteren Schiffen, die der „St. Louis“ unmittelbar folgen, der „Flandre“ und der „Orduna“, sollte es ähnlich ergehen.
Die „St. Louis“ kommt wieder in Hamburg an
Nachdem er die Passagiere in Antwerpen abgesetzt hatte, erhielt Schröder von der HAPAG die Order, mit dem leeren Schiff direkt nach New York zu fahren, um dort wartende Passagiere für eine Kreuzfahrt aufzunehmen. Dort angekommen, verließ Schröder auf erneute Anordnung der HAPAG am 31. August 1939, einen Tag vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit dem Schiff, aber ohne Passagiere, bei Nacht und Nebel New York wieder. Er fuhr nördlich an Island vorbei nach Murmansk, von dort an der norwegischen Küste entlang nach Hamburg. Ohne von britischen Schiffen entdeckt zu werden! Mit dieser erfolgreichen Aktion zur Rettung des Schiffs vor einer Beschlagnahme galt er in Deutschland als Held und somit für die SS als unantastbar.
Die „St. Louis“ versah danach wieder ihren normalen Dienst als Kreuzfahrtschiff. Nach Jahren als Wohnschiff, mehreren Bombentreffern, seiner Versenkung, dem Heben des Schiffs und einer Zeit als Hotelschiff wurde sie 1952 abgewrackt.
Der Kapitän Gustav Schröder
Gustav Schröder, ein Hamburger mit dänischen Wurzeln, begann seine Karriere als Matrose noch auf Segelschiffen, bevor er als Decksmatrose auf dem Schnelldampfer „Deutschland“ anheuerte. Im Ersten Weltkrieg wurde er 1914 in Kalkutta von den Briten interniert und kam erst sechs Jahre später wieder frei. Über die Stationen als Zweiter Offizier und Offizier erhielt er 1936 mit 50 Jahren das Kapitänspatent.
Nach der zweiten Irrfahrt der „St. Louis“ wurde er versetzt. Er bekam eine Schreibtischtätigkeit und fuhr nie wieder zur See. Er versuchte sich als Autor und seine Erlebnisse zu verkaufen. Schon 1933 in die NSDAP eingetreten, begann er sich aus Sorge um seinen geistig behinderten Sohn, den er über alles liebte, von der Ideologie der Nazis zu distanzieren. Schröder entging der Entnazifizierung, weil mehrere der überlebenden Flüchtlinge zu seinen Gunsten Zeugnis ablegten.
Späte Würdigung und Hadern mit der US-Regierung
1957 wurde Kapitän Schröder „für Verdienste um Volk und Land bei der Rettung von Emigranten“ mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Vom Staat Israel wurde er in der Gedenkstätte Yad Vashem postum in den Kreis der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen. In Hamburg existieren mehrere Gedenkstellen.Bis zu seinem Tod am 10. Januar 1959 haderte er mit der Entscheidung der damaligen US-Regierung, die Flüchtlinge abzuweisen.
Alle Hilfeleistungen hätten aber kaum etwas genützt, wenn die Fahrgäste selbst nicht so zugänglich gewesen wären. Ihr dankbares Abschiednehmen vor der Landung in Antwerpen war rührend und bewegte mich tief und unvergesslich. Umso stärker empfinde ich deshalb auch die Trauer darüber, dass viele der Armen, die sich in Frankreich, Holland und Belgien in Sicherheit glaubten, später durch den wahnsinnigen Krieg doch noch in die Hände von Verbrechern fielen und umkamen. Der Gedanke, dass es Menschen gegeben hat, die erst im K.Z. waren, dann die Passionsfahrt der „St. Louis“ mitmachten, später wieder verschleppt wurden, um schließlich im K.Z. elendig zu verenden, ist mehr als bedrückend. (Gustav Schröder: Heimatlos auf hoher See, Berlin: Beckerdruck-Verlag 1949; siehe unten)
Seine Erinnerungen beschloss Gustav Schröder mit den Worten:
Niemals aber möge die Mahnung vergessen werden, die das tragische Schicksal der schwergeprüften Passagiere des „Emigrantenschiffes“ für die gesamte Menschheit bedeutet, damit sich Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wo es auch immer sei, nie wieder breit machen können. (Gustav Schröder: Heimatlos auf hoher See, Berlin: Beckerdruck-Verlag 1949; siehe unten)
Kanadische Regierung entschuldigt sich
Kanadas Reaktion auf die Frage, wie viele Juden das Land während der Nazi-Verfolgung denn aufnehmen wolle, lautete damals: „None is too many“ („Keiner ist zu viel“). Für diese „aggressive, antisemitische“ Antwort hat sich die kanadische Regierung unter Premierminister Justin Trudeau inzwischen entschuldigt. „Wir entschuldigen uns für die Herzlosigkeit der kanadischen Antwort. Wir entschuldigen uns auch bei all jenen, die den Preis für unser Nichtstun bezahlt haben. Die wir zu dem Horror der Todeslager verdammt haben,“ sagte er am 7. November 2018 vor dem Unterhaus in Ottawa.
„Die Zeit hat Kanada nicht von seiner Schuld freigesprochen oder das Gewicht der Schande gemindert.“ 17 Prozent aller Hassverbrechen in Kanada richteten sich gegen Juden, sagte er weiter. Holocaust-Leugner und Hakenkreuz-Schmierereien bewiesen, dass der Antisemitismus immer noch da sei. Trudeau schloss seine Rede mit einem „Nie wieder!“.
Weitere Verweise
- SPIEGEL ONLINE: „Irrfahrt der ‚St. Louis‘: Wie die USA 937 jüdische Flüchtlinge abwiesen“ vom 17. Februar 2017
- SPIEGEL ONLINE: „Jüdische Flüchtlinge: Kapitän Gustav Schröder und die Irrfahrt der ‚St. Louis‘“ vom 23. Januar 2018
- „Voyage of the St. Louis“ im United States Holocaust Memorial Museum (englisch)
- „St. Louis Manifest (@Stl_Manifest)“ auf Twitter (Die Toten klagen an; englisch. Datenschutzhinweis: Mit dem Anklicken des externen Verweises auf Twitter erklären Sie sich mit der Datenweitergabe an Twitter, Inc., 1355 Market Street, Suite 900, San Francisco, CA 94103, USA, einverstanden! Die dort geltenden Datenschutzbestimmungen sind unter https://twitter.com/privacy?lang=de abrufbar.)
- CRUISING THE PAST: „Destination Havana, Cuba: The Tragic MS St Louis 1939 Sailing and the 900 Doomed German-Jewish Passengers“ (mit einer präzisen Chronik der Ereignisse, englisch)
Verarbeitung in Kunst und Kultur
Literatur
- Jan de Hartog: Schipper naast God, deutsch: Schiff ohne Hafen (Roman; auch als Schauspiel, 1945. Beide weisen aber allenfalls, wenn auch starke, Ähnlichkeiten mit der Irrfahrt der „St. Louis“ auf.)
- Heimatlos auf Hoher See: Bericht vom Kapitän der St. Louis Gustav Schröder, 1949
- Gordon Thomas, Max Morgan-Witts: Voyage of the Damned, deutsch: Das Schiff der Verdammten. Die Irrfahrt der St. Louis (Tatsachenroman, 1976)
- Fernando Remírez de Estenoz: Zuflucht Havanna (Tatsachenroman, 2018)
Verfilmungen und Hörspiel
- Schiff ohne Hafen, Hörspiel nach „Schipper naast God“ von Jan de Hartog, Bayerischer Rundfunk 1949
- Maître après Dieu, Film nach „Schipper naast God“ von Jan de Hartog, Frankreich, 1952
- Schiff ohne Hafen, Film nach „Schipper naast God“ von Jan de Hartog, Deutschland 1955
- Skipper next to God, Film nach „Schipper naast God“ von Jan de Hartog, Großbrittanien 1956
- Voyage of the Damned, deutsch: Reise der Verdammten, nach dem Tatsachenroman von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts, England 1976
- Kapitän Schröder und die Irrfahrt der „St. Louis“ – Erinnerungen an ein Drama auf See, Doku-Drama, Norddeutscher Rundfunk 2017
-
Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis, Doku-Drama, NDR, SWR, hr und rbb für Das Erste 2019
(Siehe hier auch: „Die Quellen sprechen: Zeitzeugen über das Unfassbare“, eine Höredition über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in Nazi-Deutschland!)
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