Der Steppenwolf
(Sommersonnenwende, zweiter Teil)
Als er in seiner Wohnung ankommt, beschließt er als erstes wieder einmal einen Blick in Hermann Hesses „Steppenwolf“ zu werfen. Er muss nicht lange suchen. Er hält Ordnung, wenigstens bei seinen Büchern. Nur auf seinem Schreibtisch konnten sich Papiere stapeln: Manuskripte, Buchbesprechungen, Verlagsprospekte, Zeitungsausschnitte, Notizen …
Er hatte das Buch lange nicht mehr in den Händen gehalten; es war einige Jahre her, seit er es zum zweiten Mal gelesen hatte. Zum ersten Mal zu einer Zeit, während der es so viele gelesen hatten, und das war noch viel länger her. Da war er noch jung. Wie Harry Haller hatte er schon „damals solche finstre und trübe Abende im Spätherbst und Winter geliebt, wie gierig und berauscht sog ich damals die Stimmungen der Einsamkeit und Melancholie […] und voll von Versen, die ich nachher bei Kerzenlicht in meiner Kammer, auf dem Bettrand sitzend, aufschrieb!“
Er erinnert sich, dass er schon in seiner Jugend den üblichen Treffen unter Gleichaltrigen und den Neckereien zwischen den Geschlechtern aus dem Weg ging, um lieber alleine durch die Stadt zu streifen. Beim Gedanken an die damals geschriebenen Gedichte muss er schmunzeln: Nur wenige genügten seinen inzwischen strengeren Ansprüchen an Literatur, die meisten hatte er vor langer Zeit vernichtet.
Der Aussage „[…] und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne die Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus“ kann er bis auf den ersten Teil zustimmen: Er hatte gelernt sich zu akzeptieren, vielleicht sogar zu sehr, vielleicht liebte er sich zu sehr, vielleicht war er zu autark, zu selbstständig, um andere Menschen zu brauchen, geht es ihm durch den Kopf.
Er blättert weiter und liest: „Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen.“
Still ist es, bis auf die wenigen Geräusche, der von der Straße hinauf in seine Wohnung dringen. Er genießt diese Stille, in Kürze, wenn es völlig dunkel sein wird, wird sie noch größer sein. Sofern keine Nachbarn auf die Idee kommen, zu später Stunde ein Bild aufhängen oder gar ein Regal aufbauen zu wollen, schränkt er mit Grausen ein. Oder die Waschmaschine in Betrieb setzen, dann wackelt seine ganze Küche und von drehenden Sternen keine Spur, eher von tanzenden Gläsern. „Lärm mordet Gedanken“, fällt ihm dazu Nietzsche aus dem „Zarathustra“ ein.
„Er hat sich nie für Geld und Wohlleben, nie an Frauen oder an Mächtige verkauft und hat hundertmal das, was in aller Welt Augen sein Vorteil und Glück war, weggeworfen und ausgeschlagen, um dafür seine Freiheit zu bewahren.“ Das stimmte! Er hatte sich mit Vorgesetzten angelegt und seine Karriere behindert, weil, wie man sagte, er sich zu oft selbst im Weg stand. Und bei Frauen hatte er sich nie angebiedert oder um sie geworben. Sie waren auf ihn zugekommen, hatten ihn erwählt, nachdem sie seinem Charme erlegen waren, der allerdings immer zynischer wurde. Das eigene Werben hatte er schon in seiner Jugend aufgegeben. Lieber saß er damals in seinem Zimmer und verfasste Liebesgedichte an irgendwelche im Stillen angebetete Mädchen oder Frauen, die er aber niemals jemandem zu zeigen wagte, erst recht nicht den Beschriebenen selbst.
Ihm fällt seine frühere Ehe ein. Es war eine jener seltenen Gelegenheiten im Leben, die zudem auch nicht vielen Menschen zuteil wird, in der sich zwei Menschen treffen, sich auf den ersten Blick ineinander verlieben und beschließen zusammen zu bleiben. Einfach so! Sie hatten bald geheiratet und eine äußerst innige und intensive Liebesbeziehung geführt. Doch das Feuer der Leidenschaft konnte natürlich nicht ewig halten: In diesem Wissen (und beide wussten darum) erkaltete ihre Gemeinschaft. Kurz bevor die Schwelle zum Hass, weil beide unfähig waren, etwas gegen dieses Erkalten zu unternehmen, und doch jeder dies vom anderen erwartete, ganz überstiegen wurde, trennten sie sich.
Seine Liebschaften und Affären danach waren entweder erotischer oder intellektueller Natur. Sie bestanden entweder aus einer körperlichen oder geistigen Nähe, beides konnte er nicht mehr miteinander verbinden: Verhältnisse, die keinen „Verkauf“ seiner selbst benötigten, um eingegangen zu werden. „Wo in dieser Stadt, wo in dieser Welt lebt der Mensch, dessen Tod mir einen Verlust bedeuten würde? Und wo der Mensch, dem mein Tod etwas bedeuten könnte?“, fragt sich Harry Haller im „Steppenwolf“. Diese Beziehungen waren es sicher nicht, muss er sich eingestehen.
Er sucht weiter nach den früher mit feinem Bleistift unterstrichenen Stellen und liest, „[…] daß seine Freiheit ein Tod war, daß er allein stand, daß die Welt ihn auf eine unheimliche Weise in Ruhe ließ, daß die Menschen ihn nichts mehr angingen, ja er selbst sich nicht, daß er in einer immer dünner und dünner werdenden Luft von Beziehungslosigkeit und Vereinsamung langsam erstickte.“ Er muss schlucken. Steht es schon so schlimm mit ihm? Andererseits, um es nochmals mit Nietzsche zu sagen: „Muß man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt?“
Er zündet sich eine Zigarette an und beschließt, eine Flasche Wein zu öffnen. Da fällt ihm ein, dass er auf dem Weg nach Hause vor lauter Gedanken vergessen hatte, eine zu besorgen, da sein Vorrat in seinem Keller aufgebraucht war. Er schaut auf seine Uhr: Mist, jetzt hatte seine Weinhandlung bereits geschlossen! Also muss er noch einmal hinaus zum nächsten Supermarkt, und zwar schnell. Der „Steppenwolf“ muss warten.
(Fortsetzung: Der Trick mit Thomas Bernhard)
Zwei Dinge gingen mir sofort beim Lesen durch den Kopf:
1. Klasse, der Bogen für eine weiter Fortsetzung der Geschichte wurde schon gespannt!
und
2. Er ist doch ein kleiner Mi(e)santhrop (ich liebe dieses Wortspiel), dein Held; obwohl er es im Grunde seines Herzens gar nicht sein möchte. Aber es war für ihn der Weg im Leben, der ihn am besten durch alle Anforderungen führte; sowohl durch die, denen er von außen ausgesetzt war, als auch durch die eigenen, für sich selbst abgeleiteten.
Aber es muss immer noch Hoffnung in ihm sein – wozu hätte er sich sonst auf dies von ihm gebastelte Leben einlassen sollen?
„Einsamkeit ist Unabhängigkeit, Unabhängigkeit ist Kraft, Kraft ist Liebe.
Denn nur der der die Kraft hat auch Einsamkeit zuzulassen kann auch Zweisamkeit ertragen.“
Ich warte mit Ungeduld auf den nächsten Schritt, den dein Held macht.
Nur der Steppenwolf weiß dass allein sein nicht heißt einsam zu sein.