Eine leichte Liebe
(Sommersonnenwende, fünfter Teil)
Die Flucht ergreifen, pah, denkt er auf dem Heimweg, was wusste sie denn schon? Und doch: Hatte sie nicht irgendwie auch recht?
„Und ich staunte darüber, wie reich mein Leben, mein scheinbar so armes und liebloses Steppenwolfleben, an Verliebtheiten, an Gelegenheiten, an Lockungen gewesen war“, fällt es ihm aus Hermann Hesses „Steppenwolf“ ein, und weiter: „Ich hatte sie fast alle versäumt und geflohen, war über sie hinweggestolpert, hatte sie schleunigst vergessen“. Hatte er das? Will er das wieder? War sein Leben nicht eine einzige Kette, eine Aneinanderreihung von endlosen Möglichkeiten gewesen? Möglichkeiten, die er halten konnte oder auch nicht? Aber was hatte er noch? Hatte er nicht eigentlich immer die Flucht ergriffen?
Oder lebte er nicht so, dass er immer nur Ja zu allen ihm sich bietenden Gelegenheiten sagte und erst dann Nein, wenn ihn jemand daran hindern wollte, Ja zu sagen?
Andererseits: „Wer statt Gedudel Musik, statt Vergnügen Freude, statt Geld Seele, statt Betrieb echte Arbeit, statt Spielerei echte Leidenschaft verlangt, für den ist diese hübsche Welt hier keine Heimat […]“! Und: „Es gibt ja immer einige solche Menschen, die vom Leben das Höchste verlangen und sich mit seiner Dummheit und Rohheit nicht abfinden können“, wie Hermine zu Harry Haller im „Steppenwolf“ sagt.
Er bleibt unter einer Straßenlampe stehen, auf halbem Weg zwischen Kneipe und seinem Wohnhaus, einem der wenigen in diesem Stadtteil, dessen Besitzer noch nicht auf den Zug der Umwandlung in mehr oder weniger gut sanierte Eigentumswohnungen aufgesprungen ist, und zündet sich eine Zigarette an. Viele hat er nicht mehr. Und außerdem: Wollte er sich nicht eigentlich eine Flasche Rotwein besorgen? Also zurückgehen? Ein wenig betrunken bin ich ja schon, stellt er fest. Oder vielleicht besser: stimuliert, schmunzelt er. Aber:
„Ein leichtes Leben, eine leichte Liebe, ein leichter Tod — das war nichts für mich“, fällt er sofort wieder ins Zweifeln und denkt dabei an seine Bekanntschaft „Marieluise“ von eben, als er Schritte hinter sich hört, kurz bevor er sich wieder umdrehen will, um sich doch noch beim Spanier einen Wein mitzunehmen. Trippelnde, schnelle Frauenschritte.
„Sie?“, fragt er und weiß nicht, ob er überrascht sein soll.
„‚Du hast es recht nötig, wieder einmal bei einem hübschen Mädchen zu schlafen, Steppenwolf‘“, zitiert sie und fügt an: „Oder sollte ich lieber sagen: ‚Thomas Bernhard‘?“
„Und Sie wissen auch, was der Steppenwolf antwortet? ‚Hermine, sieh mich doch an, ich bin ein alter Mann!‘“, worauf sie ihm ihre Hand auf den Mund legt.
„Eine Entführung?“, nuschelt er unter ihrer Hand. Er ist plötzlich viel zu überrascht, um sie von seinem Mund zu entfernen. Eine Frau wagt das, bei ihm?
„Ich möchte heute Nacht nicht alleine sein“, antwortet sie. „Und ich glaube, du auch nicht!“
Eine leichte Liebe, in seinem Alter?
(Fortsetzung: Die Einladung)
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