Die Einladung
(Sommersonnenwende, sechster Teil)
Er hatte sie nach dieser Nacht nicht mehr gesehen. Nicht, dass er nicht gewollt hätte, aber sie hatte sich nicht mehr gemeldet. Auch beim Spanier war sie nicht mehr erschienen, wie ihm der Wirt, der ihre Unterhaltung an diesem Abend verfolgt hatte, auf seine Nachfrage berichtete, ebenso in dem Park, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Ja, sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf! Er versuchte zwar, sie aus seinen Gedanken zu verdrängen, doch es wollte ihm auf Dauer nicht gelingen. Dabei war diese Nacht keineswegs nur harmonisch und schön für ihn gewesen!
Sie hatte den „Steppenwolf“, in dem er noch unmittelbar, bevor er in diese Kneipe ging, geblättert hatte, sofort gesehen und blätterte nun auch darin. Dabei entdeckte sie auch die mit feinem Bleistift unterstrichenen Stellen. Sie schmunzelt: „‚Ideal und tragisch lieben, o Freund, das kannst du gewiß vortrefflich, ich zweifle nicht daran, alle Achtung davor!‘ Das scheint mir in der Tat auf dich zuzutreffen! Doch: ‚Du wirst nun lernen, auch ein wenig gewöhnlich und menschlich zu lieben‘“, kichert sie.
Darauf schaut sie sich in seiner Wohnung um. Und so wundert sie sich etwas darüber, dass sie für ihren Geschmack doch ein wenig zu konservativ, fast bürgerlich eingerichtet und deren Wände zudem vom Rauch vergilbt waren.
„Es gefiel ihm, seine kleinen Laster und Extravaganzen zu haben, sich als außerbürgerlich, als Sonderling oder Genie zu fühlen, doch hauste und lebte er, um es so auszudrücken, niemals in den Provinzen des Lebens, wo keine Bürgerlichkeit mehr existiert“, also nicht so wie viele in seiner Wohngegend: Lehrer, Studienräte, Universitätsprofessoren, Freiberufler, Künstler, Werber und andere aus einer gehobenen Mittelschicht mit Hang zu stilvollen Altbauten, in denen sie vermehrt Eigentumswohnungen kauften und tagsüber bis oft spät zur Arbeit gingen, während ihre Frauen mit ihren „Hausfrauenpanzern“ unterwegs waren, wie er die Geländewagen nannte, die andauernd mit laufendem Motor irgendwo herumstanden, während die Kinder ein- oder ausgeladen wurden oder sie telefonierten, was beides mitunter mehrere Minuten oder gar länger dauern konnte.
Er zitiert weiter aus dem „Steppenwolf“, wie vorher diesmal aus dem „Tractat vom Steppenwolf“ („Nur für Verrückte!“). So definiert er ihr Gegenüber das Bürgerliche als „nichts andres als der Versuch eines Ausgleiches, als das Streben nach einer ausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaaren menschlichen Verhaltens“, bevor sie ihm mit einem langen Kuss den Mund verschließt und sich auf ihn legt. „Mir scheint, dass du ein wenig Abwechslung brauchst …“
Morgens lag sie nicht mehr auf ihm. Auch nicht neben ihm. Er bemerkte ihr Verschwinden erst, als er zum morgendlichen Wasserlassen auf die Toilette gehen musste. Auf dem Küchentisch fand er danach einen Zettel:
Lieber „Thomas Bernhard“ oder wie auch immer Du heißt,
(Bernhard hat übrigens etwas, ein Bernhardiner, Thomas passt nicht so!)
ich melde mich wieder!
Gruß,
„Marieluise Fleißer“
(Du erinnerst Dich, hihihi …)
was aber bisher nicht geschehen war.
Der Herbst ging ohne sie vorbei, ohne dass sie sich gemeldet hatte, aber ungewöhnlich mild in diesem Jahr, und der Winter nahte, es wurde kälter. Auch in seinem Herz! Als er jedoch eines Tags in seinen Hausflur tritt, findet er dort auf dem Boden ein auf dunkelrosa Papier gedrucktes Flugblatt vor, das unter der Haustür hindurchgeschoben worden war und das er zunächst als unerwünschte Werbung in den Altpapierbehälter werfen will. Er liest:
Einladung!
Zur Wintersonnenwende und der gleichzeitig längsten Vollmondnacht des Jahres am 21. Dezember möchte ich Dich herzlich zu einer Party einladen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du kommst!
Gruß
und dann die handschriftliche Unterschrift „Marieluise“ in Anführungszeichen sowie eine Adresse …
(Fortsetzung: Wintersonnenwende)
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