Die Party
(Sommersonnenwende, neunter Teil)
Er gehörte noch nie zu denen, die zu den ersten Gästen einer Party zählten. Oder er kam früh und ging, als die Gäste zu tanzen begannen. „Nein, zum Tanzen mußte man Fähigkeiten mitbringen, die mir vollkommen fehlten: Fröhlichkeit, Unschuld, Leichtsinn, Schwung“, fällt ihm wieder aus Hesses „Steppenwolf“ ein.
Am liebsten saß oder stand er die ganze Party über in der Küche, wenn es dort genügend Platz und Stühle gab. Hier kam jeder immer wieder mal vorbei, man lernte so eigentlich alle kennen. Gespräche ergeben sich leichter an diesem Ort, hatte er oft festgestellt. Eine Küche scheint Familialität auszustrahlen, man gab sich hier natürlicher mit einem Teller und einer Gabel als in einem anderen Raum mit einem Getränk in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand.
Ihm fällt eine Party seiner Klasse, mit der er auf Klassenfahrt im Salzburger Land war, im Keller des Landschulheims ein. Es war am vorletzten Abend. Gleich am ersten Abend hatte er das dänische Au-pair-Mädchen Lis kennengelernt, das dort arbeitete, doch bereits einen Tag später hatte sie ihm ein Klassenkamerad ausgespannt. Am Abend der Party tanzte er eng mit ihr und nahm gar nicht wahr, dass ihn alle böse ansahen und tuschelten. Danach machten sie ihn darauf aufmerksam, welchen Fauxpas er damit begangen hatte, mit der Freundin seines Klassenkameraden Reinhard zu tanzen, und dass jetzt wohl Prügel von jenem anstehen. Jener nahm es jedoch gelassen, schließlich war jener es, der schon am zweiten Tag welche verdient gehabt hätte, wenn er damals dieselben Maßstäbe angelegt (und sich getraut) hätte! Zu jener Zeit konnte er wenigstens noch tanzen …
Und, oh ja, sein erster Suff! Connie, einen Kopf größer als er und seine erste größere Liebe, hatte zu ihrem siebzehnten Geburtstag in den Schrebergarten ihrer Eltern eingeladen. Diese kontrollierten vorher alle Flaschen, damit nur kein Alkohol verzehrt werden würde, doch der Einfallsreichtum kannte keine Grenzen, um einige harte Getränke einzuschmuggeln — in Limonadeflaschen. Bierkästen wären zu auffällig gewesen. Dort geschah nicht nur sein erster Kuss, der sich allerdings nur als ein Kuss auf die Wange herausstellte, wie sie ihm kurz darauf schrieb, sondern auch sein erstes Besäufnis. Wie er nach Hause gekommen war, daran konnte er sich nur noch dunkel erinnern, an die Tracht Prügel seines Vaters umso mehr!
Und an eine Geburtstagsparty bei einer englischen Germanistikstudentin, die in der Deutschen Bibliothek eine Art Praktikum absolvierte. Jung waren sie damals und nur zu zweit, weil sie außer ihm und ihren Arbeitskollegen noch niemanden kennengelernt hatte. Ruth hieß sie, sie saßen nebeneinander auf ihrem Bett in ihrem kleinen Zimmer, das sie zur Untermiete hatte. Ihre Vermieter waren nicht da, und sie hatte ihn in ihren Anorak gewickelt, weil es kühl in ihrem Zimmer war, zeichnete ihn zunächst (sehr gelungen, wie er fand), dann hielt sie ihn in ihrem Arm, streichelte und küsste ihn.
Ein andermal, Jahre später, saß er mit seiner langjährigen guten Freundin und damaligen Klassenkameradin des Abendgymnasiums Angelika in deren kleinem Zimmer, das auch sie derzeit zur Untermiete genommen, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, auf ihrem Bett und hörte Musik, als sie beschloss, ihm zu seinem Geburtstag einen unendlich langen Zungenkuss zu schenken, was auch nur ansatzweise bisher nie geschehen war. Und dabei blieb es auch! Irgendwie unschuldige Zeiten, findet er, Generationen von seiner jetzigen entfernt …
So betritt er das Haus, das sich als ein Hinterhaus mit einer Gaststätte mit dem seltsamen Namen „Ammenmärchen“ im Erdgeschoss entpuppt, mit einem unsicheren Gefühl. Es war spät geworden, die Feier längst in vollem Gang. Eine gewisse Nervosität breitet sich in ihm aus, zumal er schon lange nicht mehr eingeladen worden war. Außerdem kann er den Satz „Muss Nutte sein!“ nicht vergessen, er hallt in seinem Kopf hin und her. Zusammen mit der Wirkung des Haschischs eine seltsame Mischung! Wollen doch mal sehen, ob daran etwas wahr ist!
Sie hatte anscheinend das Lokal für ihre Wintersonnenwende- und Vollmondfeier gewählt, flache, verwinkelte Räume einer fast souterrainartigen Gaststätte. Nach ein, zwei Stufen nach unten geht es rechts in einen niedrigen Raum mit dem Tresen und ein paar Tischen, geradeaus führt, nach wenigen Stufen nach oben und an einer kleinen Küche auf der einen und den Toiletten auf der anderen Seite vorbei, ein schmaler Gang in einen größeren, höher gelegenen Saal, aus dem Musik dringt und den er wegen der großen Fenster schon von außen gesehen hat. Überall stehen und sitzen Leute herum, es ist laut und sehr warm. Ob alles ihre Gäste sind oder die üblichen Kneipenbesucher, erschließt sich ihm nicht. Er beschließt, sich am Tresen erst einmal ein Glas Wein zu holen. Dort bemerkt er, dass diesem Raum noch ein weiterer, etwas größerer angeschlossen ist, in dem nur Kerzen brennen und der bislang leer ist. Eine Rückzugmöglichkeit, dorthin kann ich mich zurückziehen, falls mir alles zu viel wird, stellt er befriedigt fest.
Der Wirt, ein großer, kräftiger, leicht bauchiger Kerl mit langem grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, unterbricht seine Unterhaltung mit einer rothaarigen, bemerkenswert schönen Frau und fragt: „Na, Meesta, wat darf et denn sein?“ Und fügt, als er sein Starren auf sie bemerkt, noch an: „Da kiekste, wa? Hat et wohl nötig? Aba die steht nich uff de Karte!“
Er beschließt, ruhig zu bleiben — Haschisch macht geduldig —, und auf die Frage nach einem guten spanischen Rotwein antwortet der Wirt nicht etwa mit dem schon fast zu erwartenden „Hamm wa nich!“ oder wenigstens mit „Ick wüssde wohl, welchen ick jut finden würde, wenn ick eenen wollde, aba du wohl nich!“, worauf er sich in das tiefste Berlin versetzt gefühlt hätte, sondern mit „Rioja oda Navarra, Meesta?“, was ihn gleich etwas sympathischer erscheinen lässt. Er bestellt Letzteren und schaut sich um.
(Fortsetzung: Der Saal)
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