Der Saal
(Sommersonnenwende, zehnter Teil)
Eine seltsame Stimmung breitet sich in ihm aus, eine Art ruhiger Vorahnung, als hätte er das schon einmal erlebt. Auch die Atmosphäre im Raum ist ruhig, gedämpft, die Leute unterhalten sich ruhig, völlig aggressionslos. Emotionslos? Dafür ist es jedoch zu laut. Einige von ihnen sind seltsam angezogen, fast schon kostümiert, obwohl es bis zum Karneval noch lange hin ist: altertümliche Anzüge an einigen Männern und ebensolche, wenngleich leicht frivole Kleider an den Frauen, darunter auch Kleidungsstücke aus den 1950er- und 60er-Jahren. Er weiß wirklich nicht, wer von all den Leuten hier eingeladene Partygäste sind und wer nicht, und „Marieluise“ ist zumindest in diesem Teil der Gaststätte nirgendwo zu sehen. So beschließt er, anstatt den Wirt, der sich ohnehin wieder dieser schönen rothaarigen Frau zugewandt hat, nach der Feier zu fragen, sein Glas zu nehmen und in Richtung des Saals zu schlendern.
Auf dem Gang dorthin kommt ihm eine Frau entgegen, die ihn mit einem Hallo grüßt, doch bevor er etwas erwidern kann, ist sie schon an ihm vorbei. Ihre Stimme erinnert ihn an jemand, doch ihr Aussehen kommt ihm völlig unbekannt vor. Er schaut ihr nach, doch sie ist schon um die Ecke in Richtung des Schankraumes, aus dem er gerade kommt, verschwunden. Werde bestimmt später noch das Vergnügen haben, sie kennenzulernen und die Erinnerung aufzufrischen, denkt er und bummelt weiter.
Je näher er dem Saal kommt, desto mehr erkennt er die Musik, die er die ganze Zeit schon im Hintergrund vernommen hatte: Es sind alles Musikstücke aus seiner Jugend, Endsechziger-Westcoast-Sound aus den USA, Siebzigerjahre-Rock der psychedelischen Art und Folk-Rock aus England, Krautrock aus Deutschland, etwas Achtzigerjahre-Rock, dazwischen aber auch Leichteres, was sich damals so Pop nannte. Als er ihn betritt, fühlt er sich auch noch durch die Lightshow mit diesen bunten, plasmaartigen Tropfen, die, an eine der Wände projiziert, ineinanderfließen oder sich abstoßen, zurück in Zeiten, die lange vorbei sind. Der Raum ist sonst fast dunkel, nur ein paar vereinzelte Kerzen und eine altertümliche Stehlampe in einer Ecke versuchen ihn zu erhellen.
Es sind nicht allzu viele Leute hier; manche bewegen sich langsam zur Musik, andere sitzen in sich versunken (träumend? wartend?) auf den auf einer kleinen, niedrigen Empore, die vermutlich früher einmal als eine Bühne diente, platzierten Sofas und Sesseln. Nur wenige unterhalten sich, es ist wesentlich leiser als im Eingangsraum mit dem Tresen, auch die Musik ist nicht allzu laut. Die im Saal wohl üblicherweise aufgestellten Esstische und Stühle hat man übereinander in eine Ecke geschichtet. Nicht nur der Rauch von Zigaretten liegt in einer Luft, die nicht von einer Klimaanlage gereinigt wird, sondern auch der von Räucherstäbchen und vermutlich anderen „Rauchwaren“, und er kann nur mühsam einzelne Gesichter erkennen.
Als sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben, meint er sehen zu können, dass hier anscheinend ausschließlich Frauen anwesend sind. Und inzwischen haben sich die Blicke von wenigstens einigen von ihnen ihm zugewandt …
(Fortsetzung: Damenwahl)
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