Eine kurze Verschnaufpause
(Sommersonnenwende, zwölfter Teil)
„Na, Meesta, wat jrün im Jesicht? Wohl ne Laus üba de Leba jeloofen“, empfängt ihn der Wirt im Schankraum, in dem es inzwischen voller und damit lauter geworden ist.
„Mehrere!“, gelingt es ihm völlig verwirrt zu antworten. Ihm ist allerdings, als sei er nicht „jrün“, sondern eher gerötet im Gesicht, und gerade im letzten Moment einem Auto entronnen, das halb über einem Abgrund hängt, bevor es abstürzt.
Der Wirt dreht sich zum Flaschenregal um, greift mit der einen Hand eine Flasche und mit der anderen zwei kleine Gläser, stellt diese vor ihm auf den Tresen und füllt sie bis zum Rand. „Yia mas!“ Sie heben ihre Gläser und trinken. Ouzo, erkennt er sofort. Tut gut!
Nachdem er sich mit noch leicht zitternden Fingern eine Zigarette aus seiner Schachtel genestelt, angezündet und danach im Schankraum umgesehen, dabei immer wieder verstohlene, aber fast ängstliche Blicke in Richtung des Gangs zum Saal geworfen hat, stellt er fest, dass diese schöne rothaarige Frau, mit der der Wirt sich vorher unterhalten hatte, nicht mehr hier ist. Und „Marieluise“ ist immer noch nicht zu sehen! — Sollte SIE etwa …? Aber das scheint unmöglich! Woher sollte sie seine früheren „Freundinnen“, seine Träume kennen? Er verwirft diesen Gedanken wieder, lässt sich vom Wirt erneut sein Weinglas füllen und beschließt, sich erst einmal in diesen kleinen, dunkleren Nebenraum zu setzen. Eine kurze Verschnaufpause muss sein, bevor er sich noch einmal in den Trubel stürzen will, um nach „Marieluise“ Ausschau zu halten! Sollte er sie nicht finden, wird er wohl oder übel den Heimweg antreten — allein.
In diesem Nebenraum, seitlich hinter dem Tresen gelegen, befinden sich nur vier Tische, auf denen jeweils eine Kerze steht, die für die einzige Beleuchtung sorgen. An den zwei Seitenwänden entlang erstrecken sich Sitzbänke, die hintere Wand besteht fast ganz aus einer großen Glastür, die wahrscheinlich in einen Garten oder weiteren Hinterhof führt, was er aber wegen der Dunkelheit draußen nur erahnen kann. In der Ecke daneben vergnügt sich ein Paar, deren Gesichter er nicht erkennen kann, mit Küssen und Zärtlichkeiten. Er nimmt diagonal von ihnen in der vorderen Ecke auf der Bank Platz. Fein, sogar an Aschenbecher haben sie hier gedacht!
Nach den ersten wohltuenden Zügen an der Zigarette und einem guten Schluck von seinem Wein fallen ihm plötzlich die Parallelen zu Hermann Hesses „Steppenwolf“ ein: ein Ballsaal, Tanzvergnügen, Maskierte, wobei die Gäste hier nicht direkt maskiert, aber doch irgendwie verkleidet erscheinen, der Steppenwolf Harry Haller („Oh, Steppenwolf ist großartig! Und der Steppenwolf bist du? Das sollst du sein?“ „Ja, ich bin es. Ich bin einer, der halb ein Mensch ist und halb ein Wolf, oder der sich das einbildet.“) mitten unter ihnen und die beiden Frauen, die er kennengelernt hatte, Hermine und — wie hieß doch noch gleich die andere?
„Maria“, vernimmt er eine Frauenstimme.
(Fortsetzung: Einbildung oder nicht?)
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