Einbildung oder nicht?
(Sommersonnenwende, dreizehnter Teil)
„‚Es ist natürlich nur eine Einbildung von dir‘, sagte sie, sich zurück ins Heitere wandelnd, ‚oder, wenn du willst, eine Poesie. Aber es hat etwas. Heute bist du kein Wolf, aber neulich, wie du da in den Saal hereinkamst, wie vom Mond gefallen, da warst du schon so ein Stück Bestie, gerade das hat mir gefallen‘“, zitiert sie aus Hesses „Steppenwolf“, den sie aufgeschlagen vor sich hält, und ergänzt: „Das Wort ‚neulich‘ kannst du selbstverständlich auch durch ‚vorhin‘ ersetzen.“
„Du hast mich beobachtet?“
Es ist die schöne rothaarige Frau, die sich lange mit dem Wirt unterhalten hatte und vorhin verschwunden war. Sie bejaht, fragt, ob sie sich setzen darf, und, nachdem er durch ein Nicken sein Einverständnis gegeben und sie ihm gegenüber Platz genommen hat, fährt fort: „Du hast dich tapfer geschlagen. Aber das ganze Theater war wohl etwas zu viel für dich.“ Das Buch legt sie vor sich auf den Tisch.
„Wie kommst du auf ‚Einbildung‘? Und ‚Theater‘? Ich habe mir das doch nicht eingebildet, auch wenn es mir so vorkam, und das war kein Theater!“
„Ja und nein. Vielleicht wolltest du es so?“ Ein verschmitztes Lächeln umspielt ihren Mund, während sie ihm direkt in seine Augen sieht.
Jetzt ist er sprachlos und muss nachdenken.
Nach einer Weile nimmt sie den Faden wieder auf: „Lerne nie Schauspieler persönlich kennen! Die meisten sind sehr eitel und so ganz anders, als wir sie in ihren Rollen sehen. So sehen wollen! Auch da ist vieles Einbildung. Und Theater, im übertragenen Sinn. Aber ich lenke ab …“
Er nestelt eine neue Zigarette aus seiner Schachtel, zündet sie an, nimmt einen tiefen Zug und denkt weiter nach. Die Ereignisse im Saal waren zu aufregend und beschäftigen ihn noch. Er hat eigentlich überhaupt keine Lust zu reden, auch nicht mit dieser schönen Frau. Zu jedem anderen Zeitpunkt gern, aber nicht jetzt. Er möchte eigentlich nur in Ruhe rauchen und trinken und nachdenken. Herunterkommen, sofern das nach den ganzen „Damenwahlen“ gerade möglich ist. Er fühlt, wie die Hingezogenheit zu ihr, die er noch empfand, als er sie vorher beobachtet hatte, langsam schwindet. Was auch daran liegt, dass er langsam etwas müde wird. Und wo war eigentlich „Marieluise“? Konnte es tatsächlich sein, dass sie ihn zu dieser Wintersonnenwende- und Vollmondfeier eingeladen hat, ohne selbst zu erscheinen?
„‚Marieluise‘ wird sich dir schon noch zeigen“, antwortet die Frau. „Aber bist du auch bereit dafür?“
Sie kann seine Gedanken lesen, jetzt ist es offensichtlich! Alle hier können es, vermutet er. Und als ob sie noch nicht für genügend Verwirrung gesorgt hat, ergänzt sie:
„Denn es könnte dich den Verstand kosten …“
(Fortsetzung: Der Wirt)
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