Der Wirt
(Sommersonnenwende, vierzehnter Teil)
Er musste kurz eingeschlafen sein. Die Kerzen sind fast heruntergebrannt, die schöne rothaarige Frau ist verschwunden. Um ihn herum Stille. Ein Blick aus dem Fenster sagt ihm, dass es langsam Morgen zu werden scheint. Er erhebt sich mühsam.
Im Hauptraum ist der Wirt mit Aufräumarbeiten hinter seinem Tresen beschäftigt; er blickt kurz auf. „Na, Meesta, wie jeht et? Schon wieda wat jrün im Jesicht!“
„Noch einen letzten Rotwein, bitte, und die Rechnung“, gibt er zur Antwort, ohne auf die Frage des Wirts einzugehen, und ergänzt: „Wo ist denn diese rothaarige Frau abgeblieben?“ Er hätte da noch einige Fragen, aber die äußert er nicht.
„Wäre die eijentliche Frage nich‘ eher, wo die werte Bekannte abjeblieben is‘?“
Der Wirt weiß also auch Bescheid, kommt ihm die Erkenntnis.
Jener nimmt eins der Weingläser aus dem Regal und stellt es auf den Tresen, sucht die entsprechende Flasche, füllt das Glas und stellt die Weinflasche zurück, sucht erneut zwei Gläser, diesmal Schnapsgläser, und eine Flasche, platziert die Gläser ebenfalls auf dem Tresen, füllt sie mit der klaren Flüssigkeit aus der zweiten Flasche und stellt diese auch wieder zurück ins Regal. Sie prosten sich wortlos zu, indem sie ihre Gläschen heben und sich in die Augen schauen. Wieder Ouzo. „Yia mas!“ Dann sagt der Wirt verheißungsvoll: „Ick würde ja vielleicht nochmal’n Blick in’en Saal werfen …“
„Was geht hier eigentlich vor?“
Der Wirt konnte einem unheimlich vorkommen, trotz seiner Berliner Schnauze, die eigentlich eher etwas Joviales hat, das wird ihm jetzt, da sie beide allein sind, bewusst. Seine große, kräftige, leicht bauchige Statur mit den langen grauen, hinten zusammengebundenen Haaren erinnert auf den ersten Blick an die Figuren aus „Asterix und Obelix“, an Wikinger oder Germanen. Er ist schwarz gekleidet, nur auf seinem T-Shirt fällt eine bunte Comic-Figur auf, und trägt an einem Handgelenk einen silbernen Armreifen mit blauen Jadesteinen: Hopi- oder Navajo-Kunst. Auch auf dem Täschchen seiner Zigarettenschachtel, die ihm der Wirt gerade hinhält, prangt, ziemlich kitschig, ein Indianerkopf mit vollem Federschmuck, ebenso auf dem silbernen Sturmfeuerzeug, das gleich darauf folgt. Ein Indianerfreund, nicht unsympathisch, aber ob er von den nordamerikanischen Ureinwohnern auch tatsächlich mehr weiß als die üblichen, auf vielen Vorurteilen und Irrtümern basierenden Geschichten aus Filmen? Von den Hopi etwa, die es mittels ausgeklügelter Bewässerungssysteme schafften, die Wüste zu bewässern, um dort, wenn auch spärlichen, Ackerbau betreiben zu können?
Sollte er eine Art von Zeremonienmeister sein? Ein Schmamane, der zu einem Pow Wow lädt? Ein Dream Catcher? Hätte er nicht eindeutig die Einladung von „Marieluise“ in den Händen gehalten, hätte er auf den Wirt als Urheber in Verdacht gehabt. Wenn die ganze Wintersonnenwendefeier mal nicht in einem Trail of Tears endet!
Er hätte ihn das gern gefragt, doch sie rauchen schweigend, der Wirt weiter mit seinen Aufräumarbeiten beschäftigt, er mit seinem Wein — „Auch das war wunderlich, daß da irgendwo in grünen Tälern von gesunden braven Menschen Reben gebaut wurden und Wein gekeltert wurde, damit hier und dort in der Welt, weit von ihnen entfernt, einige enttäuschte und still schöppelnde Bürger und ratlose Steppenwölfe sich ein wenig Mut und Laune aus ihren Bechern saugen konnten“, fällt ihm aus Hesses „Steppenwolf“ ein —, bis ihn die Stimme des Wirts aus seinen Gedanken reißt: „Wie jesacht: Ick würde nochmal in’en Saal kieken! Vielleicht looft da noch wat …“
(Fortsetzung: Das Gesicht im Spiegel)
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