Das Gesicht im Spiegel
(Sommersonnenwende, fünfzehnter Teil)
Eigentlich hat er keine Lust mehr, noch einmal zurück in den Saal zu gehen. Er fühlt sich veräppelt. Diese ganze Feier oder was das sein sollte, hatte den Anschein, als ob sie nur für ihn veranstaltet worden wäre. Und dass „Marieluise“ hinter all dem steckt! Was sollte es und wie kam es überhaupt dazu, ihm noch einmal einige seiner früheren Frauenbekanntschaften, Beziehungen und Liebeleien vorzuführen? Wenn er nicht geflüchtet wäre, wären wahrscheinlich alle erschienen, selbst solche, an die er sich kaum mehr erinnern konnte, wie neugeboren aus seiner hintersten und längst verblassten Erinnerung. Sie sind Vergangenheit, er hatte nicht mehr an sie gedacht — doch hatte er sie auch verarbeitet? War das der Grund, weshalb sie ihm alle noch einmal erschienen waren? Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fühlt er sich nun, als ob er sie verraten hatte — oder war er verraten worden?
Er, so stellt er an sich fest, hat ein etwas flaues Gefühl, ihr nun entgegenzutreten, falls sie sich tatsächlich im Saal befindet, wovon er keineswegs überzeugt ist. Aber mit einer ungewissen Hoffnung auch auf Erklärung und dem Gedanken „Ach, es ist schwer, diese Gottesspur zu finden inmitten dieses Lebens, das wir führen, inmitten dieser so sehr zufriedenen, so sehr bürgerlichen, so sehr geistlosen Zeit, im Anblick dieser Architekturen, dieser Geschäfte, dieser Politik, dieser Menschen!“ aus Hermann Hesses „Steppenwolf“ tappt er erneut dem Saal entgegen.
Auf dem Weg dorthin verspürt er ein inzwischen immer dringender werdendes Bedürfnis, die Toilette auf dem Gang aufzusuchen. Er öffnet und schließt die quietschende und knarrende Altbautür, entleert seine Blase in das Urinal und tritt dem Waschbecken mit dem kleinen Spiegel darüber entgegen. Er blickt in ein übermüdetes Gesicht mit geröteten Augen. Ein alter, immer stärker ergrauender Wolf, fällt ihm dazu ein. Er fühlt sich verdammt erwachsen — und verdammt hilflos!
Doch jetzt war er (wieder einmal) allein, und daran würde sich wahrscheinlich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Er denkt an die Tage und Wochen, möglicherweise Monate und Jahre, die ganze ihm noch verbleibende Zeit, die vor ihm liegt, bis auch er sterben wird. Irgendetwas fehlt ihm, irgendetwas tief in ihm sehnt sich nach einem Gefühl für etwas, was in dieser Zukunft liegt, nach so etwas wie einem Zuhause. Aber mit wem? Gute Frage, sehr gute Frage! „Wo in dieser Stadt, wo in dieser Welt lebt der Mensch, dessen Tod mir einen Verlust bedeuten würde? Und wo der Mensch, dem mein Tod etwas bedeuten könnte?“, fragte sich schon der Steppenwolf Harry Haller, und das Gesicht im Spiegel spricht es ihm nach.
Er lebt gern allein, einerseits, aber nun er konnte sich auch nicht einen Moment lang vorstellen, vielleicht den Rest seines Lebens in solch einem Zustand der Einsamkeit zu verbringen, der einem Exil gleichkam, ausgeschlossen vom Glück. Es mutet ihm den Ernst des Lebens zu, ohne Aussicht darauf, jemals zu zweit glücklich zu werden. Wir sind einsam, ich bin einsam, denkt er, ein einsamer alter Steppenwolf. Nur unsere Bedürfnisse und unsere Liebesfähigkeit halten die Einsamkeit in Schach: die Dunkelheit und mit ihr das Wissen um das bittere und traurige Leid vom Verlust der Liebe. „Nichts ist schmerzlicher als der Verzicht auf einmal erlebte Lust“, so oder ähnlich meinte er, irgendwo bei Freud gelesen zu haben.
Er könnte schreien, aber das tut er nicht. Stattdessen wendet er sich von seinem Gesicht im Spiegel ab und rafft sich auf, um nun doch noch einmal dem Saal entgegenzutreten.
(Fortsetzung: „Marieluise“)
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