FATHER FORGIVE
Die mittelenglische Industriestadt Coventry war im Zweiten Weltkrieg Ziel mehrerer Angriffe der deutschen Luftwaffe. Dabei starben Hunderte von Menschen, fast die gesamte Stadt wurde zerstört. Auch die Kathedrale. Doch der Propst der Kirche Richard Howard setzte auf Versöhnung, noch während des Krieges. Seine Worte „Father forgive“, „Vater, vergib“, und der Akt der Vergebung wirken dort bis heute — und in alle Welt.
FATHER FORGIVE: von Versöhnung inmitten Zerstörung – Coventry und Propst Richard Howard

Die Ruine der Kathedrale von Coventry zwei Tage nach den Luftangriffen vom 14./15. November 1940 (War Office official photographer, Taylor / Imperial War Museums)
Coventry ist eine kleine, aber bedeutende Industriestadt etwa mitten in England. Ursprünglich siedelte sich die Tuchindustrie dort an, später kam die Uhrenproduktion, ab Mitte der 1880er-Jahre zunächst die von Fahrrädern, ab dem Beginn des neuen Jahrhunderts die von Motorrädern und Nutzfahrzeugen und ab den 1920er-Jahren die von Flugzeugmotoren hinzu. Wie schon im Ersten Weltkrieg, wurde auch im Zweiten die Industrie von der zivilen auf die militärische Produktion „umgerüstet“. Die damals rund 238 000 Einwohner (andere Zahlen sprechen von 320 000 oder mehr) mussten nach der Logik des Krieges damit rechnen, Ziel deutscher Luftangriffe zu werden.
Die „Operation Mondscheinsonate“ und weitere Luftangriffe
Nach mehreren kleineren Bombardements von Juli bis Oktober 1940 war Coventry am Abend des 14. November 1940 Ziel der mit dem zynischen Namen versehen „Operation Mondscheinsonate“ und damit des verheerendsten Angriffs. Im Licht des Vollmondes wollten die Nazis besonders Fabriken und die Infrastruktur der Stadt treffen. Die Beschädigung von Wohngebieten und Kulturgütern nahmen die Nazis hierbei in Kauf. Um 19.00 Uhr heulten die Sirenen, um 19.15 Uhr begann der Angriff, der in mehreren Wellen erfolgte. Dabei wurden zunächst die Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie das Telefonnetz schwer beschädigt, Straßen durch Krater unpassierbar gebombt und die Feuerwache zerstört, was, alles zusammengenommen, die Rettungs- und Löscharbeiten so gut wie unmöglich machte. Bald brannte es in beinahe jeder Straße.
Gegen 20.00 Uhr stand auch die mittelalterliche (St Michael’s) Kathedrale von Coventry in Flammen. Zunächst gelang es der Feuerwehr, das erste Feuer zu löschen, doch spätere Treffer und der ausbrechende Feuersturm entfachten es erneut. Die Sandsteinwände glühten rot, flüssig gewordenes Blei, mit dem auch viele Dächer in der Stadt gedeckt waren, behinderte die Löscharbeiten nicht nur hier. Währenddessen sollen die Glocken des Glockenturms, der unbeschädigt blieb, unbeirrt geläutet haben. Um Mitternacht erreichte der Bombenangriff seinen Höhepunkt, um 6.15 Uhr am nächsten Morgen signalisierten die Sirenen Entwarnung.
Feuerschein bis an die Kanalküste sichtbar
Bei dem Angriff, während dem die Luftwaffe insgesamt etwa 500 Tonnen Sprengbomben, 50 Luftminen und 36 000 Brandbomben abwarf, kamen mindestens 568 Menschen ums Leben. Es gab mehr als 1000 Verletzte. Viele Menschen konnte man unter den völlig zerstörten Häusern nicht bergen. Es wurden etwa drei Viertel der Industrieanlagen, die unglücklicherweise zwischen den Wohngebäuden standen, zerstört. Im Stadtzentrum blieb kaum ein Gebäude unbeschädigt: 60 000 wurden bei dem Angriff getroffen, davon 41 500 Privathäuser. Ebenfalls getroffen oder zerstört: zwei Krankenhäuser, zwei Kirchen und eine Polizeistation. Die Kathedrale von Coventry wurde bis auf den Westturm und die äußeren Wände zerstört.
Es war der erste Angriff in der modernen Kriegsgeschichte, mit dem die komplette Auslöschung einer Stadt und die bewusste Tötung von Zivilisten in Kauf genommen wurde. Ziel war es, neben der Zerstörung der Industrie, die überlebende Bevölkerung und damit auch den Rest des Landes zu demoralisieren. Der Feuerschein der brennenden Stadt soll bis an die Kanalküste zu sehen gewesen sein.
Doch dieser verheerende Schlag sollte nicht der einzige Luftangriff auf die Stadt bleiben. In den Nächten vom 8. zum 9. und vom 10. zum 11. April 1941 sowie am 3. August 1942 folgten weitere. Insgesamt starben bei allen Luftschlägen auf Coventry mehr als 1200 Menschen, die meisten Todesopfer aller deutschen Luftangriffe in England.

Ein zerstörter Linienbus im nach den Luftangriffen vom 14./15 November 1940 zerstörten Zentrum von Coventry (War Office official photographer, Taylor / Imperial War Musuems)
Propst Richard Howard: FATHER FORGIVE
Schon wenige Tage nach dem Angriff vom 14. auf den 15. November, dem (Coventry) Blitz, der englischen Bezeichnung, soll sich der Propst der Kathedrale Richard Howard einen Scheit verkohlten Holzes genommen und damit FATHER FORGIVE (nach „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“, Lukas 23, Vers 34, Jesu Worte am Kreuz) auf die verbliebene Wand hinter dem Altar gemalt haben, später ließ er die Worte dort einmeißeln und aus den verkohlten Dachbalken ein Holzkreuz und aus drei Zimmermannsnägeln ein Nagelkreuz herstellen.
Während die Nazis in Deutschland die Worte „coventrieren“ oder „coventrisieren“, vermutlich von Joseph Goebbels geprägt, benutzten und ihren Platz in einer Reihe von NS-Euphemismen erhielten, war der Versöhnungsgedanke von Propst Richard Howard noch nicht beendet. Als er von der BBC die Einladung erhielt, Weihnachten 1940 eine Radioansprache inmitten der Ruinen zu halten, nutzte er die Gelegenheit, um noch während des Krieges für eine Versöhnung mit dem Feind für die Zeit nach dem Krieg und für eine bessere, „dem Christkind ähnlichere Welt“ zu werben:
What we want to tell the world is this: that Christ born again in our hearts today, we are trying, hard as it may be, to banish all thoughts of revenge […] We are going to try to make a kinder, simpler, a more Christ-Child-like sort of world in the days beyond this strife […]
(zitiert nach Coventry City Council: Father Forgive. Coventry’s stories of peace and reconciliation)
Die Predigt und Bilder der zerstörten Kirche gingen um die ganze Welt und wurden zu einem Symbol der Aggression der Nazis.
Nach dem Krieg: der Beginn der Versöhnungsarbeit
Bald nach dem Krieg begann Richard Howard, seine Botschaft umzusetzen: Er gründete Städtepartnerschaften mit Kiel und dem ähnlich getroffenen Dresden, in den Ruinen der Kathedrale und im 1956 begonnenen und 1962 abgeschlossenen Neubau entstand ein Ort der Versöhnung. Seit 2011 besitzt die Kathedrale von Coventry auch den „offiziellen“ Status als Versöhnungszentrum und als Ort des Gedenkens an alle Opfer von Kriegen, nicht nur der vergangenen. Auch Flüchtlinge, Opfer von Vergewaltigungen und Landminen, Kindersoldaten und Umweltschäden durch Kriege usw. sind Themen einer Dauerausstellung und während der jährlichen Gedenkveranstaltungen im November.
Das alte Holzkreuz, das inzwischen als „Nagelkreuz von Coventry“ bekannte Kreuz der alten Kathedrale, befindet sich heute im Neubau, ein Duplikat im Altarraum der Ruine der alten. Ein weiteres Nagelkreuz spendete man 1988 als Zeichen der Versöhnung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Sie war ebenfalls durch Luftangriffe zerstört worden und kann wegen der architektonischen Konzeption (Erhaltung als Ruine und benachbarter Neubau) als „Schwesterkirche“ der Kathedrale von Coventry angesehen werden. Auch St. Nikolai in Kiel (schon 1947) und die Frauenkirche in Dresden (2005) erhielten Kopien. Heute befinden sich auf der ganzen Welt sogenannte „Nagelkreuzgemeinden“ oder -zentren, beispielsweise in Hamburg, wo die ehemalige, durch alliierte Bombardements zerstörte Hauptkirche St. Nikolai zum Mahnmal St. Nikolai und „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945“ (um)gewidmet wurde.
FATHER FORGIVE und die Versöhnung heute

Das Holzkreuz aus den zerstörten Dachbalken in der Ruine der Kathedrale. Auf der stehen gebliebenen Außenwand hinter dem Altar ist immer noch FATHER FORGIVE zu lesen. (sannse / Wikimedia Commons)
„Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ [aus Römer 3, Vers 23]
Darum beten wir:
Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr eigen ist, Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet, Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der anderen, Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge, Vater, vergib.
Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht, Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott, Vater, vergib.
„Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, gleichwie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“ [aus Epheser 4, Vers 32]
AMEN
(offzielle deutsche Übersetzung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V.)
In diesem Sinn wünscht der Autor allen Leserinnen und Lesern ein gutes neues Jahr!
Verweise zum Thema
- Coventry Cathedral
- CWN – News & Information for Coventry & Warwickshire: The Coventry Blitz
- BBC News: The Coventry Blitz: ‚Hysteria, terror and neurosis‘ vom 13. November 2015, eine äußerst informative Multimedia-Seite des Senders
- Blitz. The Bombing of Coventry November 1940 auf YouTube (A Timewatch Special, 58 Minuten, 14 Sekunden)
- Ronalds Notizen: „Weihnachtsfrieden“ über ein Wunder im Ersten Weltkrieg
- Ronalds Notizen: „The Night before Christmas“ über den Umgang mit Fremden
- Ronalds Notizen: „Straßen mit Liebe gefüllt“ über das Festhalten am eingeschlagenen Weg nach einer Bedrohung
- Ronalds Notizen: „Vergebliche Liebesmüh’“ über ein Museum, das zum Teil auch Kriegserlebnisse darstellt
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Diesen Artikel habe ich sehr gerne gelesen. Ich bin Mitglied eines „Friedenskreises“, jeder Tropfen….
Herzliche Grüße
Geertje vom
Wandelsinn.de
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Gerne, ich schau mal rein….
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