Die Herzen sollen gestimmt sein froh!
oder Weihnachten im August
Dürre, nichts als Dürre!
Jedlička wandte sich von seinem Fenster ab, von dem aus er auf die Grünflächen vor seinem Haus schaute. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Der Rasen war braun geworden, die Blätter begannen, vor Trockenheit von den Bäumen abzufallen. Sein Blick fiel auf den Wandkalender. Den 13., zeigte er an. August. Aber das konnte nicht sein! Mit raschen Schritten ging er auf den Kalender zu. Heute ist Weihnachten, entrüstete er sich. Er begann, alle Blätter abzureißen, bis er im Dezember angelangt war. Genauer: am vierundzwanzigsten. Heiligabend. So stimmt es!
Er ging zu seinem Schrank, holte den besten Anzug hervor, schwarz und ein wenig an einen Frack erinnernd, ein sauberes Hemd und seine Fliege und begann, sich umzukleiden. Etwas Schuhcreme auf seine besten Schuhe, mit Tuch und Lappen drüber – fertig. Dann stimmte er seine alte Geige, packte sie in das Köfferchen, schließlich mit dem alten Kamm durch die wirren grauen Haare und auf geht es. Er lenkte seine etwas schlurfenden Schritte in Richtung der Einkaufsstraße. Unterwegs rupfte er noch einige Zweige von einer Tanne als Dekoration ab. „Du grünst nicht nur zur Sommerzeit …“
Er wurde belustigt angeschaut; seine Aufmachung mitten im Sommer fiel auf. Doch das nahm Jedlička nicht wahr. Heute ist Weihnachten, die Herzen sollen gestimmt sein froh! Er entpackte seine Geige, stellt den geöffneten Geigenkoffer vor sich auf den Boden, legte die Tannenzweige herum und begann zu spielen. Weihnachtslieder! Johlende, sich auf die Schenkel schlagende Menschen waren noch harmlosere Reaktionen auf seine Darbietungen, manche schimpften gar oder versuchten, ihn anzupöbeln. Doch Jedlička ließ sich nicht beirren. Er spielte mutig weiter, mehr schlecht als recht, an Weihnachten im August. Seinem Weihnachten im August!
Ein kleines Mädchen stand schon seit einer ganzen Weile da. Konzentriert und mit leuchtenden Augen lauschte es seinem Spiel. Von ihrer Mutter war weit und breit nichts zu sehen, auch kein Vater oder ein älterer Bruder. Mit beiden Armen umklammerte es einen kleinen Teddybären, den es, ihren Kopf leicht geneigt, an eine Wange schmiegte. Schließlich nahm es ihr Kuscheltier herunter, öffnete einen Reißverschluss auf dessen Rückseite, entnahm ihm eine Münze (es handelte sich also um eine Art Geldbörse), legte sie sorgfältig in seinen Geigenkasten und ging so vergnügt, wie es nähergekommen war, wieder zurück auf ihren Stehplatz. Nach einer Weile jedoch war es verschwunden. Das war nun doch ein Grund für Jedlička, sein – zwar keineswegs fehlerfreies, aber intensives – Spiel zu unterbrechen. Und dies wiederum ein willkommener Grund dafür, weshalb alle Passanten nun nach und nach ihren Weg fortsetzten und ebenfalls verschwanden.
An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass der emeritierte Professor Anton Jedlička keineswegs auf eine Aufbesserung seiner Pension angewiesen war. Wenngleich nicht gerade üppig, so gestattete sie ihm doch einen ruhigen Lebensabend, wobei er allerdings von einem „Abend“ nichts wissen wollte, so rüstig und gesund war er doch, nicht zuletzt dank seiner künstlerischen Tätigkeiten wie eben dem Musizieren. Kunst hält jung, war sein Motto. Sein Blick in den Geigenkoffer zeigte, was er ohnehin schon ahnte: bis auf die Münze des Mädchens leer. Und bei dieser Münze handelte es sich um ein Fünfmarkstück!
Er steckte die Münze ein, legte seine Geige in den Koffer zurück und ging mit seinem leicht schlurfenden Gang, der nicht auf ein Gebrechen, sondern auf seine insgesamt etwas nachlässige Art zurückzuführen ist, ziellos durch die Straßen des Ortes. Nicht weit gekommen, sah er plötzlich das Mädchen wieder. Eine Frau war über es gebeugt und schimpfte es anscheinend aus. Er näherte sich beiden vorsichtig, bis er hören konnte, dass die Frau, offensichtlich ihre Mutter, darüber erbost war, dass ihre Tochter das Geld, das für ein großes Eis bestimmt war, nicht mehr besaß, sondern einem Mann gegeben hatte, der auf seiner Geige Weihnachtslieder spielte. Weihnachtslieder! Im August! Ob es sich der Geschichte nicht schäme?
In diesem Moment erblickte das Mädchen Jedlička, der erneut seine Geige auspackte und zu spielen begann. Die Augen des Mädchens, den Tränen nahe, begannen wieder zu leuchten. Auch die Mutter wandte sich ihm zu. Sprachlos und mit offenem Mund starrte sie ihn an. Nach einem Weihnachtslied beendete er seinen Auftritt wieder, packte die Geige in den Koffer zurück, ging auf die beiden zu, verbeugte sich formvollendet und sprach mit seiner wienerisch eingefärbten, aber auch einen slawischen, in seinem Fall einen tschechischen Akzent nicht verhehlenden Stimme, dabei die Tannenzweige wie einen Blumenstrauß haltend:
„Gestatten: Jedlička, Anton Jedlička. Heißt so viel wie Tannenzweig. Heute ist Weihnachten, die Herzen sollen gestimmt sein froh! Darf ich einladen beide Damen zu eine Eis?“
Pingback:Weihnacht oder Weihnachten: Wie ist's richtig? – Setzfehler
Pingback:Banausen – Ronalds Notizen
Pingback:Weihnachtsabend – Ronalds Notizen
Pingback:Nicht nur zur Weihnachtszeit – Ronalds Notizen