Augen in der Großstadt
von Kurt Tucholsky
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider —
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider —
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider —
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
(Verfasst als Theobald Tiger in: Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 11, S. 217, erneut in: Lerne Lachen. Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 69–70, hier zitiert und typografisch leicht bearbeitet aus: Zeno.org: „Augen in der Großstadt“. Siehe hier auch über ein persönliches Erlebnis mit einer flüchtigen Begegnung in der Großstadt: „Verpasste Chance“!)
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