Das USAREUR Support Center in Frankfurt-Rödelheim
Den internationalsten Job, den ich je hatte, war der im früheren USAREUR Support Center in Frankfurt-Rödelheim. Dort gab es ein Holzlager, eine Schreinerei, eine Fahrzeugwerkstatt und die Printing Division, die Druckerei, in der ich für ein Jahr, vom Oktober 1973 bis zum Oktober 1974, als Schriftsetzer angestellt war. Es war wie eine USA im Kleinen: ein Schmelztiegel.
USAREUR steht für U.S. Army Europe, mit anderem, dem offiziellen Namen Seventh United States Army bzw. US Army, Europe & Seventh Army. Die Support Center unterstützen die Armee in allen Belangen. Es gab sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs über ganz Europa mit Ausnahme Osteuropas verteilt.
Bekommen hatte ich den Job so völlig unbürokratisch wie man sich das nur vorstellen kann. Ich spazierte in das frühere US-Arbeitsamt, damals in der Hansaallee gelegen, schaute mir die Liste mit den offenen Stellen, die auf dem Flur hing, an und entdeckte darauf, dass ein Schriftsetzer (Typesetter) für diese Einrichtung gesucht wurde. Ich klopfte an eine Tür, wurde hereingebeten und innerhalb weniger Minuten hatte ich einen Termin beim dortigen Personalchef. Allerdings wurde mir auch gesagt, dass die Stelle noch nicht frei sei, ich aber bis dahin, ein paar Wochen, im Lager aushelfen könne – bei vollem Gehalt eines Schriftsetzers und nicht dem eines Lagerarbeiters!
Übrigens unterlagen dort alle Nicht-US-Angestellten und -Arbeiter/-innen, also alle Zivilkräfte, dem deutschen Tarifrecht, was, soweit ich mich erinnere, einmal sogar fast zu einem Streik geführt hätte, nachdem die US-(Militär-)Verwaltung das aufkündigen wollte. Sie lenkte jedoch noch ein.
Die Vorstellung im USAREUR Support Center beim dortigen Personalchef, einem zivilen US-Amerikaner, lief erfolgreich und kurz darauf fing ich an. Ich kam zunächst in ein riesiges Drucksachenlager, in dem alles, was die US-Armee an Drucksachen benötigt, gelagert war. Von einfachen Formularen über Anhänger an Uniformen für Kriegsgefangene (Name, Einheit, Nationalität, wo gefangen genommen usw.) bis zu Warn- und Hinweisschildern für den Fall eines Atomkriegs. Meine Aufgabe war, anhand von Bestelllisten die für eine Einheit benötigten Drucksachen zusammenzusuchen und auf einem Wägelchen zum Versand zu bringen.
Auch dort half ich manchmal aus. Die meisten Mitarbeiter/-innen waren junge türkischstämmige Frauen. Das Förderband, auf dem die adressierten Pakete nach oben zur Laderampe für die Militär-Lkw gelangten, die die Pakete an die Einheiten verteilten, bediente das „Faktotum“: ein buckliger, klumpfüßiger Deutscher, ähnlich dem, wie man sich den „Glöckner von Notre-Dame“ vorstellt, der zudem noch sabberte und sich nur unartikuliert ausdrücken konnte. Zur Bedienung des Förderbands aber alles keine Hindernisse! Wenn man ein gewisses Unwohlsein, das sich bei seinem Anblick unweigerlich einstellte, überwunden hatte, stellte er sich aber als ein äußerst netter und sogar lustiger Zeitgenosse heraus. Die Türkinnen mochten ihn. Überhaupt habe ich auch später immer wieder festgestellt, dass „Ausländer“ einen viel unbefangeneren Umgang mit irgendwie behinderten Menschen haben als wir Deutsche. Insgesamt herrschte dort ein äußerst lockeres Arbeitsklima, wozu die Frauen immer wieder durch Späßchen beitrugen.
Nachdem die Zeit in diesem Lager länger dauerte als ausgemacht, beschloss ich, erneut beim Personalchef (oder war es das US-Arbeitsamt?) vorzusprechen. Es stellte sich heraus, dass etwas schiefgelaufen war und ich sofort in die Setzerei wechseln könne. Vom dortigen jungen (deutschen) Abteilungsleiter wurde ich freundlich empfangen.
Meine Aufgabe bestand im Satz von zumeist englischsprachigen Formularen, wobei es sich meist nicht um Neusatz, sondern nur um die Umsetzung von Korrekturen und Aktualisierungen in (vorhandenem) Stehsatz handelte. Ich hatte sogar Zeit, hin und wieder ein selbst verfasstes Gedicht zu setzen. Der Korrektorin, die, soweit ich mich erinnere, weder Deutsche noch US-Amerikanerin war, aber in beiden Sprachen bewandert, wenngleich das Deutsche mit unüberhörbarem Akzent sprechend, und der ich diese Abzüge wie die von allem Satz gab, den ich anfertigte, war begeistert von meinen dichterischen Fähigkeiten. Sie erhielt allerdings auch nur die Gedichte, die ich in englischer Sprache verfasste. Wie etwa diese: „Carpetride“ und „A Week In War And Peace“. Wenn ihr eins besonders gut gefiel, bat sie mich sogar um einen zusätzlichen Abzug, den sie behalten wollte.
Die Setzerei war zwar ziemlich groß, aber ich war bald der einzige Setzer. Gleich nebenan standen einige Tiegeldruckpressen, hinter einer deckenhohen Glaswand die vielen Offset-Druckmaschinen. Insgesamt war es ein riesiges Gebäude. Die ganze Zeit wurde ich neugierig von einem der Buchdrucker an einer der Heidelberger, von allen „der Araber“ (the Arab) genannt, in Wirklichkeit aus Syrien oder Jordanien, beäugt. Einem Schriftsetzer bei der Arbeit zuzusehen, wie er die Lettern aus dem Setzkasten fischt, in einen Winkelhaken setzt und so Zeile für Zeile anfertigt, ist schon sehr interessant, aber ich glaube, dass er schwul war.
Neben meinem Abteilungsleiter, einem weiteren, älteren Deutschen mit ihm in seinem Büro und der Korrektorin war die erste Bekanntschaft in der Setzerei die mit einem jungen weißen GI. Wo und was er arbeitete, war mir nie ganz klar, aber er interessierte sich auch für meine Arbeit und kam öfter vorbei. Er war ein wenig einfach gestrickt, wie man sagt, wahrscheinlich von irgendwoher vom Land, aber sehr nett und freundlich. Er bot mir an, dass er mir von einer Stelle auf dem Gelände, zu der nur Militärangehörige Zugang hatten, das Cola-ähnliche „Dr Pepper“ besorgen könne, das ich damals gern trank und das es damals in Deutschland noch nicht gab. Ein Angebot, das ich gern annahm.
Schon während meiner Zeit im Lager boten sich mir immer wieder Gelegenheiten, mich auf dem ganzen Gelände umzusehen zu können. Dabei kam ich auch ins Papierlager, in dem die Papierbahnen für den Offsetdruck und die Bögen für den Buchdruck lagerten. Bald lernte ich ein ganze Clique von Leuten kennen, die dort arbeiteten: einen riesengroßen, dunkelhäutigen Nachfahren der melanesischen Urbevölkerung der Kanak aus Neukaledonien, einen jungen Japaner und einen Marokkaner sowie mehrere auch junge Deutsche aus der Pfalz. Bis auf Letztere waren alle auf Welt- oder Europareise, in Frankfurt hängengeblieben und benötigten Geld für ihre Weiterreise. Die Hauptsprache des Neukaledoniers war Französisch, weshalb er sich besonders gut mit dem Marokkaner verstand. Uns alle verband aber das Englische.
Hinzu kam bald noch ein Afroamerikaner mit dem witzigen Namen W. C. Black, also WC wie water closet und black wie schwarz! Es sei die Abkürzung für William Charles, erklärte er mir; er wurde aber nur WC, englisch: Double-ju-cee, gerufen. Er ist auch der Einzige, an dessen Namen ich mich heute noch erinnere. Zusammen hingen wir bald dauernd zusammen herum. Und kifften im Papierlager, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot!
Allerdings mussten wir stets aufpassen, nicht vom Abteilungsleiter des Papierlagers, einem älteren Deutschen namens Hecker oder Häcker, aufgespürt zu werden. Er war ein kleiner, dauernd nörgelnder Mann, der wie ein Schießhund aufpasste, dass sich jeder an seinem Arbeitsplatz befand. Zu Ehren seines Betriebszugehörigkeits-Jubiläums fand einmal eine Feier mit viel Freibier und Würstchen statt. Ich erinnere mich, wie wir, vollgekifft bis obenhin, vor Lachen über Mister Hacker fast unter die aufgestellten Biertischgarnituren gefallen wären. Alle anderen dachten wohl, dass uns die Feier besonders gut gefiel. Noch Jahre danach brachen der Marokkaner und ich bei der Erwähnung seines Namens und des Support Centers immer dann sofort in ein lautes Lachen aus, wenn wir uns zufällig einmal begegneten. Später wich das Lachen verklärten und wehmütigen Blicken, wie wenn man sich einer fernen Geliebten erinnert.
Auch trafen wir uns regelmäßig in der Kantine, die im USAREUR Support Center in Frankfurt-Rödelheim nicht fehlen durfte. Zu essen gab es nur wenige US-amerikanische Standardspeisen wie Hamburger und Cheeseburger, zusätzlich deutsche Würstchen. Zubereitet wurden diese vom deutschen Pächter, der wie das Klischee eines Cowboys wirkte: Cowboy-Stiefel und -Hemd, Jeans. Er war einer jener deutschen US-Fans, die fast US-amerikanischer aussehen als US-Amerikaner selbst. Fast schon wie eine Karikatur! Eine Musikbox gab es dort (ich bin geneigt zu sagen: natürlich) auch. Wir ließen dauernd „Long Train Running“ von den Doobie Brothers spielen, eins der wenigen Glanzlichter der Plattensammlung. Noch heute fällt mir immer dann, wenn das Lied einmal im Radio gespielt wird, das USAREUR Support Center ein.
Bis auf WC, der als Zivilangestellter in Rödelheim, nicht weit vom USAREUR Support Center entfernt, mit seiner deutschen Freundin zusammen wohnte, waren alle anderen in einem Wohnheim untergebracht, das an der Eschersheimer Landstraße lag. Wir kifften auch dort, und bald kamen andere Drogen hinzu. Mehrmals sind wir auch nachts noch in eine Disco wie das frühere „Aquarius“ gegangen. Mit den Pfälzern bin ich später sogar einmal über ein Wochenende in ihre Heimat in der Nähe von Kaiserslautern, K-Town, wie US-Amerikaner die Stadt nannten, gefahren: eine einzige Sause!
Schließlich hatten der Neukaledonier und der Japaner das Geld für ihre Weiterreise zusammen. Der Marokkaner hatte eine deutsche Frau gefunden, die ihn finanziell aushielt und heiraten wollte. Die Pfälzer hatten genug vom Job. So blieben nur Trennung und Abschiednehmen. Einzig WC blieb in Rödelheim wohnen, aber unsere Freundschaft ist irgendwann eingeschlafen. Auch ich hörte bald dort auf, weil ich etwas anderes als meinen gelernten Beruf machen wollte. Der Schmelztiegel löste sich auf.
Das frühere USAREUR Support Center in Frankfurt-Rödelheim gibt es inzwischen längst nicht mehr; es stand nur zwischen 1969 und 2017, wobei es schon 1989 aufgegeben worden war. Was sich inzwischen dort befindet, weiß ich nicht, obwohl ich später noch mehrmals aushilfsweise in dessen näherer Umgebung beschäftigt war.
Wahrscheinlich will ich es auch gar nicht wissen.
Weitere Verweise:
- USAREUR Units & Kasernes, 1945 – 1989 (englisch)
- USAREUR Units & Kasernes, 1945 – 1989, Publications and Training Aids Center: ziemlich weit unten zwei Luftbilder und ein Blick in die Druckerei (englisch)
- Reddit.com: Lost Architecture: US Army Support Center in Frankfurt Rödelheim, Germany. 1968 – 2017: ein Luftbild der Anlage (englisch)
- Die frühere Haschwiese in Frankfurt am Main, eine Art Vor- und Danach-Geschichte zu dieser
Nun, das ist eine lange Erzählung, aber ich habe sie mir ganz durchgelesen, denn ich fand es interessant, was du in diesem Center so erlebt hast und was für Leute es da gab. Eine verrückte Zeit war das, gell?
Allerdings! In diese Zeit fiel mit meinem Auszug auch die Abnabelung von meinen Eltern und der Beginn einer kleinen, aber intensiven Schauspieler-Karriere. Alles wichtige Entwicklungsschritte, die ich nicht missen möchte!
Interessanter Text, den ich erst jetzt entdeckt habe. Was ich bemerkenswert finde ist, dass anscheinend Hinz und Kunz ohne großen Background-Check bei der US-Army arbeiten konnte, wie die genannten Traveller.
Wo war nochmal die Disco Aquarius?
Spät entdeckt, den Beitrag, zumal er nicht zuletzt auch durch deine Anregung zu „Die frühere Haschwiese in Frankfurt am Main“ entstand! Aber der Eindruck täuscht; schließlich waren für die Tätigkeiten im Papierlager keine besonderen Qualifikationen außer vielleicht einem Gabelstapler-Führerschein nötig, für andere, wie z. B. für meine als Schriftsetzer, hingegen schon.
Die Diskothek „Aquarius“ befand sich in der Schützenstraße, Ecke Fischerfeldstraße, also beim alten „Sinkkasten“ um die Ecke.
Danke für das (späte) Interesse und den Kommentar!