Alle Zeit der Welt
Manchmal genügt ein Bild, um eine Beziehung zu charakterisieren. Im Idealfall ist es ein Bild, das eine typische Situation von zwei Menschen darstellt, die zusammen sind. Eines, das den Status ihrer Beziehung ausdrückt. Oder wie sie sich kennengelernt haben, zum Beispiel. Das perfekte Bild also. Dass es so etwas gibt, erfuhr ich durch eine Frau. Und auch, dass es manchmal alle Zeit der Welt benötigt, um sich nahezukommen und miteinander glücklich zu werden.
Ich kannte sie schon lange. Das heißt, „kannte“ ist eigentlich zu viel gesagt. Ich sah sie immer wieder auf Partys, öffentlichen Veranstaltungen, Versammlungen. Mal hier, mal dort also. Und immer rein zufällig. Miteinander gesprochen hatten wir nie. Aber sie fiel mir immer wieder auf. Ihre selbstsichere Art, ihre moralische Integrität, ihr unbestechlicher Blick auf die Welt, ihre Kompromisslosigkeit in Diskussionen, ihre Ernsthaftigkeit und vieles mehr beeindruckten mich zutiefst. Auch die Art, wie sie sich kleidete, gefiel mir: einfach, aber geschmackvoll. Davon abgesehen, sah sie auch sehr gut aus. Sie war gertenschlank, groß und hatte lange blonde Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
Aber sie war unerreichbar für mich.
Dachte ich. Sie musste jedoch die ganze Zeit auch ein heimliches Auge auf mich geworfen haben. Eines Tages nämlich trafen wir uns zufällig bei einer Art Entrümpelungsaktion. Irgendein Dachboden sollte leergeräumt werden.
Ich stand zwischen all dem Gerümpel, als sie den Raum betrat. Ich sagte irgendetwas Belangloses zu ihr, als sie auf mich zukam. Dabei verfing sie sich mit einen Fuß in einem Gewirr aus alten Gurten und Seilen, die auf dem Boden lagen und im Halbdunkel des Dachbodens nicht leicht zu sehen waren. Sie war schon dabei, zu stolpern und zu fallen, als ich noch rechtzeitig meinen rechten Arm ausstrecken konnte, um ihn ihr als Stütze hinzuhalten. Bereits halb im Fallen, ergriff sie meinen Arm und stützte sich gleichzeitig auf ihm und einem alten, verstaubten Piano ab, das an einer Wand stand. „Das perfekte Bild“, murmelte sie, nachdem sie sich aufgerichtet hatte. Sie umarmte mich plötzlich, gab mir einen dicken, warmen Kuss auf meine rechte Wange und flüsterte: „Gib mir noch etwas Zeit.“
Was blieb mir anderes übrig, als ihre Umarmung zu erwidern. Hielt sie, in einen weichen, wollenen graublauen Rollkragenpullover und Jeans gekleidet, lange im Arm. Die brauche ich auch, dachte ich, und antwortete ihr halblaut: „Alle Zeit der Welt!“
(Siehe hier etwa auch „Huckepack“!)
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