Tausendschönchen – kein Märchen
Zwei junge Frauen kommen zur Überzeugung, dass die Welt verdorben ist. Also beschließen sie, genauso verdorben zu sein. So beginnt der tschechoslowakische Film „Tausendschönchen“ (Sedmikrásky, englischer Titel: Daisies, auch als „Die kleinen Margeriten“ bekannt) von Věra Chytilová. Wobei der Untertitel „kein Märchen“ darauf hinweist, dass es sich nicht um eine der vielen Märchenverfilmungen handelt, für die das Land so bekannt war. Aber das wird ohnehin nach wenigen Minuten offensichtlich …
Marie 1 und Marie 2, verkörpert durch die beiden hinreißenden Laiendarstellerinnen Jitka Cerhová und Ivana Karbanová, pfeifen auf traditionelle Moralvorstellungen und gesellschaftliche Normen. Sie schmeißen sich an zumeist ältere Männer heran, die sich von ihrem naiven Übermut angezogen fühlen, beuten deren Geldbörsen aus und versuchen, jeden Spaß zu genießen, der sich ihnen bietet. Das beschränkt sich zunächst auf mehr oder weniger kleine Gemeinheiten und minderschwere Sachschäden wie etwa die von ihnen gestiftete Verwirrung in einem Nachtclub.
Aber vor allem das (Fr)essen hat es ihnen angetan. Dies gipfelt in der gelungenen Schlussszene, in der die beiden ein riesiges Büfett systematisch plündern und zusätzlich völlig ruinieren. Und als ob es danach noch etwas zu retten gäbe (sich selbst?), schieben sie die zerschlagenen Teller, Gläser und das zermatschte Essen am Ende wieder zusammen.
Ein Plädoyer für weibliche Selbstbefreiung
Doch ihre „Verdorbenheit“ ist nur eine unschuldige Rebellion vor dem Hintergrund einer unruhigen modernen Welt. Stichwort: der Vietnamkrieg. Die Protagonistinnen dienen in erster Linie als Demonstration der weiblichen Befreiung im Sinne der feministischen Strömungen der Zeit. Die beiden Maries stehen, wenngleich in extremer Form, auch für Frauen, die in einer Männerwelt um ihr Überleben kämpfen. Zitat Marie 1, die Dunkelhaarige: „Du hast krumme Beine.“ Antwort Marie 2, die Rotblonde: „Hör mal, auf ihnen fußt meine ganze Persönlichkeit!”
Und so, wie die beiden Mädchen sich an keine Regeln halten, erlaubt der Film der Regisseurin eine geradezu unerhörte Freiheit im Umgang mit den filmischen Mitteln. Völlig unverkrampft experimentiert sie mit Licht und Farbe, Bildaufbau und dem Einsatz von Musik. Wobei die Musik auch einmal aus dem Tippen auf einer Schreibmaschine bestehen kann! Jede logische Dramaturgie wird durchbrochen, auf Charakterisierung, Psychologisierung und vor allem auf die ach so „modern“ gewordene Pathologisierung der Figuren verzichtet, Philosophie mit Klamauk vermischt. Er entzieht sich einer klassischen Inhaltsangabe; die Form ist der Inhalt.
Ein Juwel des tschechoslowakischen Kinos
„Tausendschönchen“ von 1966 ist eine herrlich schräge und surrealistische Erzählung über zwei junge Frauen, die beschließen, so verdorben zu sein wie die Welt um sie herum. Die bissige Abrechnung mit kleinbürgerlicher Engstirnigkeit, Spießertum und den Grenzen der Unbeschwertheit ist zeitlos und ein originelles Juwel des tschechoslowakischen Kinos sowie eines der Hauptwerke der Tschechoslowakischen Neuen Welle (Československá nová vlna) der 1960er-Jahre. Es erzürnte die damaligen kommunistischen Funktionäre dermaßen, dass sie den Film nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 umgehend verboten. Věra Chytilová wurde untersagt, weitere Filme zu drehen. Erst 1976 erschien ein weiterer Film von ihr.
Trotzdem machte die tschechische Regisseurin mit dieser grotesken Komödie auch international auf sich aufmerksam. Sie erschien in vielen Ländern und wurde 2018 bei einer BBC-Umfrage unter 368 Filmexperten aus 84 Ländern auf den sechsten Platz der besten Filme aller Zeiten, bei denen eine Frau Regie geführt hat, gewählt.
Erst im Juli 2012 erschien eine deutsche Erstveröffentlichung auf DVD. Am 28. April 2023 kam der Film in einer restaurierten Fassung als Wiederaufführung in die deutschsprachigen Kinos. Das Ergebnis ist nicht jedermanns Sache, aber wer sich darauf einlässt, wird seinen Spaß haben. Es wäre doch schade, wenn dieser einfallsreiche Film in den Archiven einiger weniger Filmfans verstauben würde! Wie heißt es doch im Schlusswort: „Dieser Film ist all jenen gewidmet, deren einziger Anlass zur Empörung das Haar in ihrer Suppe ist.“ Unterlegt mit dem Rattern eines Maschinengewehrs.
Der Film ist im (restaurierten) tschechischen Original mit u. a. auch deutschen Untertiteln noch bis zum 17. August 2023 hier abrufbar: ARTE: „Tausendschönchen – kein Märchen“. Film in voller Länge (74 Minuten).
(Alle Bilder: trigon-film.org. Siehe hier etwa auch „Was Sie schon immer (nicht) wissen wollten (28)“ über die Monty Pythons im deutschen Fernsehen und „‚Die Reifeprüfung‘, 55 Jahre später“!)
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