„Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später
Wie sich die Rezeption eines Films im Laufe der Jahre ändern kann, das zeigte mir kürzlich eine Wiederholung: „Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später. Was nicht unbedingt immer zum Vorteil des Films gedeiht. In diesem Falle aber durchaus.
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich „Die Reifeprüfung“ von Mike Nichols, im englischen Original: The Graduate, damals im Kino oder im Fernseher meiner Eltern gesehen hatte. Er kam Ende 1967 in die US-Kinos, knapp ein Jahr später, am 6. September 1968, wurde er auch in Deutschland veröffentlicht. Doch zu dieser Zeit hatte ich ihn noch nicht gesehen; es muss erst einige Jahre später gewesen sein. 1967, 1968 hatte ich meine persönliche (politische und sexuelle) Reifeprüfung noch lange nicht abgelegt. Weshalb ich mir den Film damals überhaupt ansehen wollte, weiß ich nicht mehr. Wegen des Hauptdarstellers Dustin Hoffman, den ich sehr mochte? Der Musik von Paul Simon, eingespielt von Simon & Garfunkel?
„Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später
Kürzlich habe ich mir ihn noch einmal angesehen. Ich hatte gelesen, dass er im Fernsehen wiederholt wird. So wichtig war er mir allerdings nicht, sodass ich den Livestream erst eingeschaltet hatte, nachdem eine Radiosendung vorbei war. Es gibt Filme, die mich weitaus nachhaltiger beschäftigt hatten als dieser. Doch nun: „Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später.
„Warum tust du mir das an?“ Ein Date in einem Striptease-Lokal
Jedenfalls war der Film, als ich ihn schließlich einschaltete, schon so weit fortgeschritten, dass das sexuelle Techtelmechtel zwischen dem Hauptdarsteller Benjamin „Ben“ Braddock (Hoffman am Beginn seiner Karriere) und Mrs. Robinson (Anne Bancroft auf dem Höhepunkt ihrer Karriere), an das ich mich noch erinnerte, schon gelaufen war. Er, Benjamin, schickte sich an, den von seinen Eltern erwünschten, von Mrs. Robinson aber strikt untersagten Kontakt mit ihrer Tochter Elaine (die unglaublich schöne Katharine Ross, für die der Film einen künstlerischen Höhepunkt bedeutete und die übrigens bereits in zweiter von fünf Ehen verheiratet war) aufzunehmen.
Um beide Parteien (und Elaine) zu enttäuschen, führt er sie in ein Striptease-Lokal aus. Die Szene dort, wie sie, zusammengekauert und demonstrativ mit dem Rücken zur Bühne sitzend, ihre Handtasche auf ihrem Schoß umklammernd, lautlos zu weinen anfängt, um ihn dann leise zu fragen, warum er ihr dies antue, hatte nicht nur mein Herz gebrochen. Auch Benjamin entdeckte plötzlich seine Liebe für sie. Sie versöhnt sich mit ihm, für meine Begriffe unglaublich schnell, noch in derselben Nacht.
Vom Liebhaber zum Stalker
Nun, auch wenn ich selbst, manchmal wohl auch unwissentlich, schon Frauen vergrault hatte, die ein allzu starkes Interesse an mir zeigten, so begann „Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später, hier doch etwas unglaubwürdig zu wirken.
Nachdem Elaine von ihrer Mutter erfahren hat, dass Benjamin und sie miteinander geschlafen hatten (wobei Mrs. Robinson ihr dies als Vergewaltigung darstellte), bricht sie wieder mit ihm. Sie beschließt (oder wird von ihren Eltern beordert), ihre College-Studien fortzusetzen. Ben findet heraus, wo, findet sie auch und beginnt, sie geradezu zu verfolgen. „Stalken“, könnte man dies heutzutage nennen.
Die (Un)glaubwürdigkeit einer (un)sicheren Zukunft
Nachdem er sie darüber aufgeklärt hatte, dass es sich bei seinem Verhältnis mit ihrer Mutter nicht um eine Vergewaltigung handelte, sondern dass sie es forcierte, kommen sie sich langsam wieder näher. Er möchte sie heiraten. Sie schwankt noch. Doch ihre Eltern haben für sie inzwischen eine „standesgemäße“ Heirat arrangiert. Ein All-American Dream, wie Frank Zappa singen würde, ist als Kandidat fest eingeplant. Das Ende des Films dürfte bekannt sein: Als die Trauung bereits vollzogen ist, trifft er in der Kirche ein, wo es ihm gelingt, sie quasi vom Traualtar weg zu „entführen“.
Doch die eigentliche Schlussszene ist die viel interessantere: Die Freude und der Triumph über ihre gelungene Flucht in einem Linienbus weichen aus ihren Gesichtern langsam einem Blick in eine unsichere Zukunft. Ein Happy Ending sieht anders aus. Hier die Schlussszenen des Films (4 Minuten, 50 Sekunden):
(Datenschutz-Hinweis: Der Film ist hier so eingebettet, dass keine Cookies von YouTube resp. Google gespeichert werden. Sollten Sie auf die Videoseite des Films bei YouTube wechseln, so erklären Sie sich mit der Datenweitergabe an diese Dienste einverstanden!)
Rebellion findet nur im Privaten statt.
Über die viel zu geringen Altersunterschiede der Darsteller/-innen der Hauptfiguren ist schon oft hingewiesen worden. Auch darauf, dass die von Ben und Elaine eigentlich schon viel zu alt für ihre Rollen waren. Aber Spiel(!)filme müssen nicht glaubwürdig sein. Doch was beim erneuten Ansehen auffällt: 1967 war der Summer of Love, die Zeit der Suche nach alternativen Lebensformen und der Hippies, aber auch des Vietnamkrieges und der Proteste dagegen. Wobei Berkeley, wo sie ihre Studien aufnimmt, einer der Hauptorte der Proteste war! Doch nichts davon ist im Film zu sehen. Einzig in Form der Person des dortigen Pensionsbesitzers, bei dem Benjamin unterkommt und der keine „Krawallbrüder“ bei sich beherbergen möchte, werden diese angedeutet. Eine Rebellion findet ausschließlich im Privaten statt. Sofern es sich überhaupt um eine solche handelt.
Wer ist eigentlich der Held, wer der Antiheld?
Doch ist Ben tatsächlich der Antiheld, als der er hingestellt wird und als den ich ihn bislang gesehen hatte? Der orientierungs- und hoffnungslose Jugendliche in einer Welt, in der Erwachsene nur „Plastics“ sind, wie es sein Vater ausdrückte? Freute es mich damals nicht, als er sie endlich „bekam“? Oder ist er nicht eher ein selbstbezogener Hedonist, „a self-centered creep“, wie es US-Filmkritiker Roger Ebert zum dreißigjährigen Jubiläum des Films ausdrückte? Der am Ende erkennt, dass das, was er gewollt hatte, nämlich Elaine, ihm (auch) nicht ausreichen wird? Oder der mit ihr schließlich in einem Vorstadthaus mit Swimmingpool ähnlich denen ihrer Eltern landen wird? Mit zwei Kindern und sich auf sexuelle Abenteuer einlassend? Was kann noch passieren, nachdem eine Rebellion erfolgreich war?
Ist die eigentliche „Rebellin“ nicht Mrs. Robinson, die sich entgegen aller (selbst heute noch geltenden) Konventionen einen jüngeren Liebhaber nimmt? „[…] the film’s only sympathetic character“, wie ebenso Ebert befand? Und diejenige, die ihre naive Tochter eigentlich davor bewahren will, eine Ehe mit einem fragwürdigen jungen Mann einzugehen? Um schließlich das gleiche Schicksal wie sie zu erleiden?
„Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später
Es sind diese Fragen, weshalb der Film ein erneutes Ansehen gelohnt hat. Und es ist genau dieses Ende. Ein Ende, das Hollywood zu dieser Zeit so sehr zuwiderläuft, wie man es sich nur vorstellen kann! Es gleicht die Unglaubwürdigkeit mancher voriger Stellen völlig aus. Zudem gefiel es mir zu verfolgen, wie Elaine während des Fortgangs der Handlung immer schöner wird und sich immer ansprechender kleidet. Die zeitlose Musik von Simon & Garfunkel tut natürlich ihr Übriges.
„Die Reifeprüfung“, 55 Jahre später, ist immer noch ein Ansehen wert. Ob ein erneutes oder ein erstmaliges. Wahrscheinlich auch noch 60 Jahre später.
(Siehe auch Omaha.com: „’The Graduate‘ at 50: See it again with older eyes; you may find your original ideas to be half-baked“ vom 21. April 2017 sowie hier etwa „Was Sie schon immer (nicht) wissen wollten (28)“ über die Monty Pythons im deutschen Fernsehen und „Ehe“!)
Pingback:Tausendschönchen – kein Märchen – Ronalds Notizen
Pingback:„An Inspector Calls“ – Ronalds Notizen