Ein Stuttgarter Theaterdonner
Stuttgart ist eine schöne Stadt. Idyllisch in einem Talkessel und auf den ihn umgebenden Hügeln gelegen, strahlt die Stadt aber auch eine bürgerliche Gediegenheit aus. Bundesweit bekannt ist die Stadt nicht nur für einen dort ansässigen Automobilhersteller, einen Fußballverein, für „Stuttgart 21“, das Schauspielhaus und für Stammheim. Womit wir zum Thema kommen, nämlich zur Verbindung zwischen Letztgenannten. 1977 war die Stadt Schauplatz eines veritablen Theaterdonners, dem „Stuttgarter Theaterdonner“, wie wir ihn hier nennen wollen. Dieser weitete sich weit über die Grenzen der Stadt hinaus aus.
Bekannt wurde das Schauspiel Stuttgart nicht nur durch viele namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler, die dort wirkten (u. a. der von mir sehr geschätzte Peter Roggisch), sondern auch durch dessen Intendanten. Der wohl bekannteste dürfte Claus Peymann gewesen sein, der von 1974 bis 1979 Schauspieldirektor in Stuttgart war. Der Stadtteil Stammheim wiederum ist vor allem durch die Justizvollzugsanstalt Stuttgart bekannt, in der die Prozesse gegen führende Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) stattfanden. Nach deren Verurteilung waren diese dort auch inhaftiert. Und starben dort später.
In die Schlagzeilen geriet Peymann aber nicht nur durch sein Wirken. So war das Schauspiel Stuttgart beispielsweise bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Theater heute“ 1976 bis 1978 dreimal in Folge „Theater des Jahres“. Mitnichten! Er wagte es, 1977 mittels eines Aushangs innerhalb des Theaters um Geldspenden für eine Zahnbehandlung für die in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen zu bitten. Eine Mutter (es soll die von Gudrun Ensslin gewesen sein) hatte vorher Prominente gebeten, den offen gebliebenen Teil der Rechnung eines Zahnarztes zu begleichen, der die Behandlung übernommen hatte. Einer ihrer Briefe ging auch ans Theater. Peymann selbst spendet einen kleinen Beitrag und hängt den Aufruf am schwarzen Brett des Theaters auf. Eine humanitäre Geste, mehr nicht. Zunächst jedenfalls.
Nachdem dies bekannt wurde, begann etwas, was man heutzutage als einen veritablen „Shitstorm“ bezeichnen würde: der Stuttgarter Theaterdonner. Und das ganz ohne Internet! Von „offizieller“ Seite meldete sich zunächst der damalige Ministerpräsident Baden-Württembergs Hans Filbinger (erinnert man sich noch an ihn und an sein unseliges Wirken während der Nazizeit?) zu Wort, der dessen Absetzung forderte. Dank der Vermittlung des damaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Manfred Rommel konnte Peymann wenigstens seine Vertragslaufzeit bis zum Ende erfüllen.
Doch dann traten auch die gemeinen Bürgerinnen und Bürger auf den Plan, die erst Wochen und Monate später von dem Vorfall erfahren hatten. (Wie gesagt: damals alles ganz ohne Internet!) Mittels Postkarten und Briefen tun sie ihren Unmut kund. So etwa, zitiert aus taz.de: „RAF-Kunst: Genuss an der Feindschaft“ vom 25. September 2007:
Ihnen gehört die Mistgabel auf den Kopf gearscht, dass die Socken platzen.
Oder, zitiert aus taz.de: „Doku über die RAF: Vor 40 Jahren in der BRD“ vom 24. April 2017:
Vergasen sollte man dich, am besten mit Chlor.
Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Künstlerkollektiv Rimini Protokoll haben 2007 für Deutschlandfunk Kultur ein Dokumentar-Hörspiel über den damaligen Stuttgarter Theaterdonner veröffentlicht: Peymannbeschimpfung. Hörspiel über eine historische RAF-Debatte (54 Minuten).
Darin sind neben Peymann selbst auch die damalige Intendanzsekretärin des Staatstheaters Stuttgart, der Zahnarzt sowie Manfred Rommel zu hören. Ein hoch interessantes Hörspiel über die Befindlichkeiten der Nation im Herbst 1977, übrigens auch zum Hörspiel des Monats Oktober 2007 gewählt!
Dass die Entscheidung des damaligen Oberbürgermeisters, den RAF-Mitgliedern nach deren Tod auf einem Stuttgarter Friedhof eine letzte Ruhestätte zu ermöglichen, einen weiteren Shitstorm hervorrief, soll hier nur am Rande erwähnt sein.
Weitere Verweise
- Rimini Protokoll: „Claus Peymann und die RAF-Zähne“ (die beiden Hörspiel-Macher/-innen zu ihrem Werk und dem Hintergrund, außerdem weitere Zitate)
- Rimini Protokoll: Peymannbeschimpfung (Hörspiel)
- Schwäbische.de: „Ein Pazifist, kein Sympathisant“ vom 10. Januar 2014
- Heldenplatz. Über (Neo)nazis und Juden
Über die RAF-Toten auf diesem Stuttgarter Friedhof und „Volkes Stimme“ gab es vor langer Zeit mal eine Dokumentation in irgendeinem Fernsehsender. Übelst, was manche von sich gegeben hatten! Aber diese Radioempfehlung ist auch nicht ohne …
Genau diese Dokumentation war es wohl auch, die mich zum letzten Absatz inspirierte!
Übrigens sind Hass und Hetze tatsächlich nicht erst seit der flächendeckenden Verbreitung des Internets Mittel des deutschen Pöbels. Habe gerade noch einmal einmal eine Wiederholung von „Träume“, einem Hörspiel von Günter Eich, gehört, wobei es sich bei den Träumen eher um Alpträume handelt, die fundamentale Ängste als direkte Erfahrung aus dem Grauen des 2. Weltkriegs schildern. Nach der Ursendung des Hörspiels am 19. April 1951 im damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Hamburg erhielt der Sender wütende Telefonanrufe und Beschwerdebriefe. Zitat des NDR aus einer solchen Beschwerde:
Was der deutsche Bauer nicht versteht, das muss er kritisieren; siehe auch die immer wieder köstlichen Kommentare zu „Tatort“ und „Polizeiruf 110”.