Die vergessenen Judenpogrome in Berlin
Der Antisemitismus hat in Deutschland eine lange, eine sehr lange Tradition. Daran, so ist zu befürchten, wird sich so bald nichts ändern. Auch nicht die Tatsache, dass wir heute, am 9. November, vor allem der Novemberpogrome gedenken, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 SA-Truppen und Angehörige der SS gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung und deren Einrichtungen verübten: die sogenannte „Reichspogromnacht“. Doch bereits 15 Jahre vorher fanden die vergessenen Judenpogrome in Berlin statt.
Während der Weimarer Republik wurde das Scheunenviertel mehrfach zum Ziel polizeilicher Razzien und antisemitischer Pogrome. Als es jedoch im November 1923 aufgrund der Hyperinflation in ganz Deutschland zu Hungerprotesten mit Überfällen auf Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte kam, verschärfte sich die Lage in diesem Stadtteil. Am 5. November 1923 erhielten Tausende Erwerbslose vom Arbeitsamt in der nahen Gormannstraße keine Unterstützungsgelder mehr. Agitatoren verbreiteten Gerüchte, dass Ostjuden aus dem Scheunenviertel das vorhandene Geld planmäßig aufgekauft hätten. Darauf bildete sich ein Mob, der vor allem durch die damalige Grenadierstraße (früher: Verlor[e]ne Straße, heute: Almstadtstraße) zog.
Am helllichten Tag wurden Juden überfallen, nackt ausgezogen und beraubt, Menschen, die der Menge „jüdisch“ erschienen, aus ihren Wohnungen oder aus Autos herausgezerrt und verprügelt, Geschäftseinrichtungen verwüstet. Die Polizei verhielt sich passiv bzw. war erst Stunden später vor Ort. Als sie endlich erschien, benötigt sie geschlagene zwei Stunden, um die Ausschreitungen zu beenden und das Viertel abzusperren. Als sich der Mob am folgenden Tag erneut auf die Hatz nach Juden machen wollte, konnte sie die Ausschreitungen rascher beenden. Angehörige des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten, die den Verfolgten mit Knüppeln und Pistolen zu Hilfe eilten, vergebens übrigens, wurden stattdessen kurz darauf von der Polizei festgenommen.
„Die antisemitische Saat ist aufgegangen“, schrieb der sozialdemokratische „Vorwärts“ Tage später in seinem Leitartikel. „Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden.“ Ein Irrtum, wie sich 15 Jahre später erneut zeigen sollte.
Ende der 1920er-Jahre wurden schließlich viele Ostjuden abgeschoben oder sie emigrierten nach Nordamerika. Die Grenadierstraße verlor aufgrund dessen bereits kurz vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten als jüdisches Zentrum an Bedeutung. Die ersten jüdischen Bewohner/-innen kamen im April 1933 nach dem Judenboykott in wilde Konzentrationslager. Bis zum Jahr 1942 hatten die Nazis die verbliebenen Juden deportiert und ermordet. Die Judenpogrome in Berlin fanden ihr Ende.
Das Feature von Karsten Krampitz im Deutschlandfunk: „Straße der Verlorenen. Als Berlin geschändet wurde“ vom 7. November 2023 (knapp 44 Minuten) und ein Beitrag von Klaus Hillenbrand in der taz: „Berliner Pogrom am 5. November 1923: Das vergessene Pogrom“ vom 5. November 2023 erinnern an die vergessenen Judenpogrome in Berlin.
(Siehe hier auch „Seuchen brauchen Sündenböcke“ als Beleg dafür, dass Pogrome gegen Juden schon viel älter sind! Zum heutigen Tag: „Der 9. November, ein Schicksalstag“.)
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