Gedanken über Trennungen …
… beim Lesen von Peter Schneiders Erzählung „Lenz“
Man liebt das Gefühl, das man für jemanden hat, den man liebt, genauso wie den, der es ausgelöst hat. Unter dem Verlust dieses Gefühls leide ich vielleicht mehr als unter dem Verlust von L.
(aus Peter Schneider: Lenz, Berlin 1973)
„Morgens wachte Lenz aus einem seiner üblichen Träume auf.“ Er träumte von seiner ehemaligen Freundin, in der Erzählung nur „L.“ genannt, und schon beim Kaffeekochen überfällt ihn der Wunsch sie anzurufen.
Das ist der Anfang von Peter Schneiders „Lenz“. Den Plan, sie anzurufen, verwirft er zuerst, weil sie „mit dieser verschlafenen Kinderstimme ‚Hallo‘ sagen wird und mich dann fertigmachen, daß ich schon wieder anrufe“. In der morgendlichen Hektik des Berufsverkehrs tut er es dann doch, sie ist jedoch nicht erreichbar.
Dieses Gefühl, soll ich oder soll ich nicht, kommt vielen sicher sehr bekannt vor, die Trennungen hinter sich haben. Es fällt zunächst schwer, den Ernst der Lage zu begreifen. Lenz hätte es bereut, wenn L. zu Hause gewesen wäre; er hätte das zu hören bekommen, was er sich vorstellt.
Es fällt Lenz schwer, sie so einfach aus seinem Leben zu verbannen. In einem seiner vielen nicht abgeschickten Briefe schreibt Lenz: „Es ist schon so weit gekommen, daß ich nichts mehr sehe, ohne es in irgendeine Beziehung zu dir zu bringen, überall erkenne ich dich wieder, stelle mir vor, was du dazu sagen würdest“, und weiter: „Ich wußte nicht, wie grauenhaft es ist, jemanden so zu begehren, […] ich glaube, es sind deine Zärtlichkeiten, für die ich nicht stark genug bin.“ Er sendet den Brief nicht ab, weil ihm einfällt, „daß es Ernst war, daß L. wirklich nichts mehr von ihm hören wollte“.
Es fällt einem oft nicht leicht, diesen Ernst zu begreifen, selbst wenn man mit der Trennung einverstanden war. Meist hat sie sich schon angekündigt, lange bevor sie ausgesprochen wird. Trennungen sind nie plötzlich, wenn es ein gemeinsam geführtes Leben gab, sie verläuft meist zuerst innerlich und unbewusst, dann äußerlich, bevor der innere Schritt der endgültigen Loslösung vollzogen werden muss.
L. sagt an einer Stelle zu Lenz, dass er nur durch eine fremde Kraft zu leben begonnen hat. „Der Intellektuelle verschweigt sich und seiner Geliebten diese Erfahrung.“ Ein Hinweis darauf, dass notwendige Gespräche nicht geführt wurden — der Tod einer jeden Beziehung!
Die Erinnerung an die vergangene Beziehung bleibt übermächtig, so wie bei Lenz, als er meinte L.s Geruch im Zimmer zu verspüren und ihre Haare auf seinem Gesicht. „Sein Glied stand groß und lästig unter der Bettdecke […] er merkte, daß sich alle seine Phantasien auf weit zurückliegende Ereignisse bezogen.“ Lenz muss sich immer wieder klarmachen, dass er jetzt alleine wohnt. Geht er in eine Kneipe und trifft dort Bekannte, ist er ganz plötzlich wieder bei „seiner Geschichte mit L.“, ratlos geht er in Telefonzellen und hat das Bedürfnis sie anzurufen, nachts träumt er von ihr.
Diejenigen, die eine Trennung von einem geliebten Menschen erlebt haben, werden die erste Zeit danach kaum etwas machen können, ohne an den Partner zu denken, mit dem man bis vor kurzem noch zusammen war. Und das Erste, was man vermissen wird, ist die Banalität des Alltags, die vielen täglichen Handgriffe, das tägliche Vertrauen, die Routine. Dinge, die vorher scheinbar das Zusammenleben lähmten, erscheinen einem plötzlich als ungeheuer wichtig.
Eines Abends verabredet sich Lenz mit L. Er bekommt weiche Knie bei ihrem Anblick und ist froh, dass er sitzt. Sie schaut genauso aus, wie er sie sich die ganze Zeit vorgestellt hat. Lenz hat sie eine Weile nicht mehr gesehen und empfindet ein ähnliches Gefühl wie damals, als er sie zum ersten Mal sah. Er war sofort in sie verliebt gewesen. Nun sitzt er ihr gegenüber, aus Verlegenheit studiert ein paar Briefe, die sie ihm mitgebracht hatte. Sie benehmen sich „wie ein Ehepaar, das sich erst beim Frühstück voneinander verabschiedet hat“. Ihre Verhaltensweise lässt darauf schließen, dass sie, sobald sie wieder zusammen wären, wieder in ihre alten Kommunikationsstrukturen und Verhaltensweisen zurückfallen würden. Als L. ihm die Stelle zeigt, wo ihr ein Zahnarzt eine neue Plombe eingesetzt hat, schaut er ihr in den Mund, seine Neugier kommt ihm blöd vor und L. ärgert sich über ihre Vertrauensseligkeit. Sie fragt sofort, warum er sie eigentlich sehen wollte.
„Lenz hatte sich vorher einiges zurechtgelegt, zwischendurch waren ihm einige Formulierungen eingefallen, von denen er meinte, sie würden ihre Beziehung revolutionieren.“ Können Formulierungen eine Beziehung verändern? Nein, Lenz möchte zu ihr zurück: „[…] jetzt, so nah vor L., kam ihm alles hohl und ausgedacht vor. Es faßte ihn eine Wut, daß er sich schon nach kurzer Zeit wie an Armen und Beinen gefesselt vorkam.“ Es ist die Wut darüber, dass er verdrängen muss, dass er noch an ihr hängt: „Da sieht doch ein Blinder, daß ich wie eine Klette an dir hänge, jeden Tag, jede Nacht muss ich an dich denken […] ich platze vor Sehnsucht.“
Man versucht ein Gefühl der Überlegenheit herzustellen, das natürlich auf sehr wackligen Beinen steht! Lenz ekelt seine eigene Sachlichkeit selbst an, ihm fällt nichts mehr ein, was er noch sagen könnte. Sein Blick fällt auf ihren neuen Pullover; es empört ihn, dass „sie es fertig gebracht hatte, sich diesen Pullover und wer weiß noch alles zu kaufen. […] Er war jetzt von der Vorstellung besessen, daß er sich nie wieder würde einkleiden können ohne L.“. Er kann sich die Frage nicht verkneifen, wo und mit wem sie ihn sich einkaufte.
Trennungen sind umso schmerzlicher, je abhängiger man von seinem Partner war. Abhängigkeit hat jedoch nichts mit Liebe zu tun! Die meisten Menschen machen den Fehler, den anderen als Urheber für seine eigenen Glücksgefühle zu sehen. Dadurch entsteht Abhängigkeit, weil man das Schöne und damit den Partner (be)halten will. Man „liebt“ den anderen und hebt ihn in den Himmel, solange er dieses Bedürfnis befriedigt, tut er es nicht, stellt sich Enttäuschung ein. Man wird „ent-täuscht“, obwohl eine „Täuschung“ nie stattgefunden hat; man hat den Partner nur nicht so gesehen, wie er wirklich ist, und das wird ihm nun vorgeworfen, obwohl man sich dieses „Miss-Verständnis“ eigentlich selbst vorwerfen müsste!
Lenz ist wie vor den Kopf geschlagen. Er stellt sich vor, was L. ohne ihn macht. Man stellt sich gerne vor, der andere könne ohne einen unmöglich leben. Doch L. hat sich schneller an ein Alleinsein gewöhnt als er. So muss er mit Befremden feststellen, wie wenig seine Vorstellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Für einen Moment dämmert es ihm, ihm war „als würde ihm ein Schleier von den Augen fortgenommen […] Es waren Empfindungen, die nur aus ihm selbst kamen, er wußte nicht woher“. Die Erleichterung, die er beim Auseinandergehen verspürt, würde nicht lange vorhalten, das wusste er, denn bald würde die Sehnsucht wieder von ihm Besitz ergreifen.
Ist man über die Zeit der dunkelsten und trübsinnigsten Wochen hinweg, merkt man irgendwann doch, dass man wieder ein bisschen mehr zu sich selbst zurückgefunden hat, mit sich selbst und seinen Gefühlen wieder etwas anfangen kann, so wie Lenz, der zunächst nach Italien geht. Auch, wenn es noch dauert, bis man die unmittelbare Vergangenheit verarbeitet hat. Doch mit Nachdenken allein ist es nicht getan und seine Gefühle kann man nicht beeinflussen. Man kann nur lernen sie zu akzeptieren, mit ihnen umzugehen, sie zu fühlen, wie die Rose nach einem Gewitter fühlt, dass sie genug Feuchtigkeit bekam und ihre Blätter wieder öffnet.
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