Offener Brief an Roland Koch
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Nachdem Sie als solcher bereits vor sieben Jahren, als es bundesweit noch eine rot-grüne Regierung gab, forderten: „Arbeit statt Stütze, Sprungbrett statt Hängematte“, haken Sie nun, wohl auch in Ihrer Eigenschaft als stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, nach: „In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht. Wir müssen jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertige Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung.“ Und weiter: „Politik muss die notwendige Härte haben, solche fordernden Elemente einzuführen und durchzusetzen, weil sie die Gegenleistung für eine sehr großzügige Unterstützung der Bürger und Steuerzahler sind.“
Zunächst einmal, Herr Koch: Ich „empfange“ nicht „Hartz IV“! So wurde diese Reform genannt, die zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt führte (erinnern Sie sich?), sondern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), hier: Arbeitslosengeld II. Wenn ich Hartz IV bzw. die Hartz-IV-Reform empfangen könnte, ich würde sie ausschalten oder zurückschicken! Auch wenn sich die Bezeichnung „Hartz-IV-Empfänger“ im Volksmund und bedauerlicherweise inzwischen selbst in den seriösen Medien durchgesetzt hat, sollten gerade Sie als Politiker zur korrekten Wortwahl greifen, um sich nicht Inkompetenz vorwerfen zu lassen!
Wie Sie diese „Leistungen“ als „eine sehr großzügige Unterstützung“ bezeichnen können, ist mir schlicht rätselhaft! Im Gegensatz zu Ihrem Parteikollegen von der CDU Herrn Philipp Mißfelder, der meinen Eintrag „Soziokulturelles Leben mit Arbeitslosengeld II“ vermutlich gelesen hat (siehe „Danke, Herr Mißfelder …“), war dies bei Ihnen wohl nicht der Fall (oder etwa doch?). Zudem sollte Ihnen als Jurist und wenn Sie schon ein solches Thema ansprechen bekannt sein, dass ich auch ohne Ihren Vorstoß verpflichtet bin, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, andererseits drohen empfindliche Sanktionen bis hin zur kompletten Streichung der Leistungen, wonach ich mich mit vielen anderen, die auch aus anderen Gründen davon betroffen sind, auf der Straße und unter Brücken wiederfinden werde. „Fordernde Elemente“ müssen Sie also keineswegs einführen, das Programm dieser Reform steht bereits unter der Überschrift „Fördern und Fordern“! Dass meiner Erfahrung nach der zweite Teil inzwischen bei Weitem überwiegt, vermerke ich hier nur am Rande.
Da ich aber arbeiten möchte, frage ich Sie, woher Sie neue Arbeitsplätze nehmen wollen bzw. wie und wo Sie diese einzurichten gedenken. Mir scheint, dass Sie Opfer einer (weiteren) Inkompetenz, nämlich einer völligen Verkennung der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt sind.
Sagen Sie nun bitte nicht: Durch den erneuten Ausbau des Frankfurter Flughafens werden neue Arbeitsplätze geschaffen! Von den vor dem Bau der Startbahn West prognostizierten 4000 neuen Arbeitsplätzen sollen es m. W. noch nicht einmal 400 gewesen sein, die nach der Fertigstellung dabei herauskamen. Für mich wie für die meisten Arbeitssuchenden war leider keiner dabei! Vom zusätzlichen Fluglärm wollte ich in diesem Zusammenhang eigentlich schweigen, wenn nicht bekannt geworden wäre, dass Sie im Zug der erneuten Erweiterung Ihr „Unser Wort gilt!“ betreffs des Nachtflugverbots bereits gebrochen haben! Meinen Sie denn wenigstens diesmal, dass ich dort einen dauerhaften Arbeitsplatz finden würde, auch wenn absehbar ist, dass die Region infolge des Fluglärms einen Bevölkerungsschwund und -wandel wird hinnehmen müssen?
Aber vielleicht kann ich Sie im Zusammenhang mit der „sehr großzügige(n) Unterstützung“ auf den Schwarzgeld-Skandal und die Spendenaffäre Ihrer Partei von vor zehn Jahren ansprechen. Sie hatten damals „brutalst mögliche Aufklärung“ versprochen (und auch nicht eingehalten!). Ich meine: Hammse davon nicht noch ’n bisschen was übrig?
Ich würde dann eventuell auch darüber hinwegsehen, dass Sie als Jurist die Verfassung des Landes Hessen offensichtlich nicht kennen, auf die Sie als Ministerpräsident Ihren Amtseid geschworen haben und die im Artikel 59 die Unentgeltlichkeit von Schul- bzw. Hochschulunterricht verlangt, als Sie Studiengebühren einführten.
In freudiger Erwartung Ihrer Antwort
Quellen:
- Wirtschaftswoche vom 16. Januar 2010: „CDU-Vize Koch fordert Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger“ von Henning Krumrey und Roland Tichy (nicht mehr verfügbar)
- Frankfurter Rundschau vom 17. Januar 2010: „Wiedergänger aus Wisconsin“ von Karl Doemens, erschienen am 18. Januar auf Seite 5 der Druckausgabe (nicht mehr verfügbar)
- Ministerpräsident Roland Koch: „Politik muss die notwendige Härte haben“ vom 18. Januar 2010 (nicht mehr verfügbar)
- Bundesministerium der Justiz: Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II)
Verfassung des Landes Hessen, Artikel 59 - Wikipedia: Roland Koch: Politik und CDU-Spendenaffäre: Die Spenden der Hessen-CDU
Zwar nicht zum Thema gehörend, doch nicht uninteressant:
Anbei ein Lesetipp:
http://www.roland-koch.de/Das-Solidarprinzip-ernst-nehmen/1264117690.html
Danke, das ist neu auf seinen Seiten und ich kannte den Text noch nicht! Muss ich mir in Ruhe durchlesen, aber nach dem ersten Eindruck bleibt die Grundfrage, woher er all die Stellen nehmen will. Und zur Sanktionspraxis: Frankfurter Rundschau: „Zahl der Sanktionen seit Jahren konstant“.
Mein Kommentar nimmt Bezug auf den offenen Brief, aber auch auf die in den Links gemachten Aussagen.
„Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht.“
Wie viel Weltfremdheit wird eigentlich von jemandem vorausgesetzt, bevor er in die oberen Sphären der Politik aufgenommen wird?
Wer hält die ALG-II-Sätze für angenehm?
Jemand, der damit über mehr als einen kurzen Zeitraum gelebt hat, sicherlich nicht.
„In letzter Konsequenz zielt Kochs Vorstoß auf die Abschaffung von Mindestlöhnen.“
Wenn Mindestlöhne nicht geschaffen bzw. vorhandene abgeschafft werden sollen, dann bedeutet dies, dass skrupellose ArbeitGEBER den Sozialstaat ausbeuten können, indem sie billigend Ergänzungsleistungen durch die so genannte Solidargemeinschaft der Versicherten oder der Steuerzahler in Kauf nehmen. Die DAFÜR Verantwortlichen müssten öffentlich an den (medialen) Pranger gestellt werden, wie es – leider zu selten – manchmal inzwischen tatsächlich auch geschieht. Passend zu dieser Unsitte das Unwort des Jahres 2009: betriebsratsverseucht.
Da werden Menschen, die sich für Menschen einsetzen, verunglimpft.
Wenn eine Leistung nur für einen Hungerlohn erbracht werden kann, dann sollte darauf verzichtet werden, diese Leistung zu erbringen (und wir als Verbraucher sollten so eine Schweinerei möglichst nicht unterstützen, denn wir kaufen dann staatlich subventionierte Produkte oder Leistungen (s.o.) und nehmen die Ausbeutung der dort Beschäftigten billigend in Kauf).
„Wir müssen jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertige Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung.“
Selbstverständlich sollen die Leute Arbeit bekommen, aber doch nicht so, dass Firmen an „richtigem“ Personal sparen können, weil es viel billiger ist, sich Leute z. B. als 1-€-Jobber zu holen. DAS ist modernes Sklaventum zu Lasten der Gemeinschaft. Es mag in Einzelfällen Gründe geben, so zu verfahren. Aber wenn bei den Firmen ein Bedarf da ist, sollten diese die Leute „richtig“ einstellen. Art. 14 Grundgesetz (GG) sagt „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Das heißt, die Habenden dieser Gesellschaft sind von unserer Bundesverfassung verpflichtet, sich den Nichthabenden anzunehmen. Staat (wir als Gesamtheit), Arbeitgeber und Arbeitnehmer und Arbeitslose: Es dürfte klar sein, wer hier zu den Nichthabenden gehört. Und zu schlechter letzt: viele Großfirmen zahlen gar keine Steuern und nutzen jedes Schlupfloch aus und drücken sich auf diese Weise vor gesellschaftlicher Verantwortung …
Bevor ich etwas zur Neiddiskussion sagen möchte, will ich darauf hinweisen, dass ich selbst seit 1974 ununterbrochen berufstätig bin und nie irgendwelche Leistungen in Anspruch genommen habe. Aber ich bin gewiss nicht neidisch. Mich packt allerdings der Graus, wenn ich lese:
„Wenn Millionen, die hart arbeiten, sehen, dass sie ohne eigene Anstrengung folgenlos annähernd das Gleiche verdienen könnten wie diejenigen, die das System ausnutzen, dann ist das nichts anderes als die Perversion des Sozialstaatsgedankens.“
Denn:
Wenn Millionen, die hart arbeiten, Grund haben, auf ALG-II-Empfänger neidisch zu sein, dann sollten diese Millionen in die Gewerkschaften strömen und sich vereint für anständige Löhne und Gehälter einsetzen, denn dann stimmt mit deren Einkünften (die wiederum Grundlage für ALG-II-Sätze sind) ganz viel nicht. Das ALG II sichert nur, dass keiner verhungert. Es sichert weder gesunde Ernährung, es sichert nicht die für jeden notwendigen Anschaffungen ab, es sichert auch nicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und selbst das ist offensichtlich oft nicht gewährleistet. Auch die wie Pilze aus dem Herbstboden schießenden Suppenküchen könnten davon berichten.
Und das alles gebietet die Menschenwürde, die zu schützen allen Artikeln unseres Grundgesetzes vorangestellt ist.
„Wie aber sieht es bei der steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV, aus? Hier können und dürfen wir nicht zufrieden sein. Die Zahl der Personen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld beziehen, hat sich seit vier Jahren kaum verändert. Knapp 5 Millionen erwerbsfähige Menschen und weitere 1,8 Millionen mit diesen in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Personen beziehen SGB-II-Leistungen.“
Grund für Zufriedenheit besteht wahrlich nicht, am wenigsten wohl bei den Leistungsempfängern. Diejenigen, die über Jahre Sozialleistungen in der einen oder anderen Form erhalten, beziehen nicht nur Leistungen aus Steuergeldern, sondern zahlen auch keine Steuern, haben später als Rentner das Nachsehen. Viele, insbesondere Frauen, werden da noch ihr blaues Wunder erleben.
Billigjobs mögen den Politikern mit Blick auf die nächste Wahl die Arbeitslosenstatistiken schönen, verschlimmern aber die Misere langfristig. Die statistischen Angaben über die heutige Zahl an Arbeitslosen und Leistungsempfängern lassen für die Zukunft Schlimmstes befürchten.
Es ist erschreckend, an welche niederen Beweggründe Politiker appellieren, um in den Medien präsent sein zu dürfen.
Es ist erschreckend, was – in diesem Fall – ein Politiker einer so genannten christlichen demokratischen Partei der Bevölkerung zumuten glaubt zu können, ohne dass es einen Aufschrei aller, nicht nur der Arbeitslosen, gibt!
Danke für den ausführlichen Kommentar und besonders für die darin enthaltenen Hinweise im Zusammenhang mit (der Umgehung von) Mindestlöhnen! Seit der Hartz-IV-Reform ist jeder Bezieher von Arbeitslosengeld II verpflichtet, auch Tätigkeiten anzunehmen, deren Vergütung deutlich unter Tarif liegt! (Übrigens ist die Grundlage von Arbeitslosengeld II nicht das vor der Arbeitslosigkeit bezogene Gehalt; dies trifft auf Alg I zu! Zur Berechnung von Alg II siehe den auch im Artikel genannten Eintrag „Soziokulturelles Leben mit Arbeitslosengeld II“.)
Inzwischen scheint jedoch wenigstens der Widerstand gegen Kochs Vorstoß zu wachsen (siehe etwa „Koch über Hartz-IV-Arbeitspflicht: Rambo schaltet auf stur“ von Sebastian Fischer, Florian Gathmann und Franziska Schubert bei Spiegel-Online vom 22. Januar 2010), was zwar tröstlich ist, aber nichts an der gängigen Umsetzung und Praxis von Hartz IV ändert.
In der Zeitschrift ZEIT, Nr. 5, vom 28.1.2010 habe ich Interessantes zum Thema gelesen.
Ich habe daraufhin folgende Links gesucht und gefunden:
http://www.zeit.de/2010/05/Hartz-IV
http://www.zeit.de/2010/05/DGB-Sommer-Hartz-IV?page=all
….der brutalst [mögliche; der Administrator] Auflärungs-MP der schmeißt so etwas in den Papierkorb, oder?
Wir sind ja schon ein bißchen weiter und jetzt haut uns „Guido“ in die Wunde, da fällt mir ein: warum sieht man keine FDP-Wähler auf den Straßen…..die sind alle beim Finanzamt………..um sich selbst anzuzeigen, damit sie straffrei bleiben, ha, ha — ich könnte lachen wenns nicht so traurig wäre, freundlichst klaus h
… während wir Arbeitslosen in „spätrömischer Dekadenz“ (Guido Westerwelle, FDP) verharren, hahaha …
„Arbeit oder Sozialismus“, Herr Westerwelle (siehe „Westerwelle fordert ‚Neuanfang‘ des Sozialstaats“ bei SPIEGEL ONLINE)!
Zur Abwechslung mal eine ganz andere Herangehensweise an dieses Thema: Erich Kästners „Knigge für Unbemittelte“, gerade gefunden bei Verweile doch: „Aus aktuellem Anlass“.