Auge um Auge
Gedanken zur Tötung von Osama bin Laden
Der Tod ist immer ein Ereignis, das traurig macht. Traurig machen sollte! Das weiß jeder, der schon einmal einen Menschen, der einem nahestand, verloren hat, noch dazu, wenn der Tod gewaltsam eintrat. Aber auch, wenn Osama bin Laden wohl keinem der Leserinnen und Leser dieser Notizen sympathisch gewesen sein dürfte, und ob der Tatsache, dass es bisher keine tatsächliche Bestätigung dafür gibt, soll die Frage erlaubt sein, ob der gemeldete und zudem gewaltsame Tod von Osama bin Laden einen Grund zur Freude darstellt. Darstellen kann und sollte.
Wir erinnern uns: Am 11. September 2001 fanden in den USA grausame Anschläge statt, die, ungeachtet einiger bisher unaufgeklärter Ungereimtheiten hinsichtlich der Ausführung und der Ziele, Tausende von Opfern forderten. Daran, dass eine gewisse „Terrororganisation al-Qaida“, deren Ursprünge der damalige US-Präsidenten Bush im Irak vermutete, und der deren Führer Osama bin Laden als Urheber ausmachte, woraufhin die geschädigte Weltmacht zur Selbstjustiz griff. Er war es auch, der den „Kampf gegen den Terrorismus“ erklärte und einen Krieg gegen den Irak begann, der sich als mindestens ebenso grausam wie die Anschläge selbst entpuppen sollte. Zudem wurden im Rahmen der Antiterrorgesetze nicht nur kritische Stimmen in den USA, sondern überall auf der Welt zum Verstummen gebracht.
„He was not armed.“
Am 1. Mai 2011 um 22.35 Uhr Ortszeit gab der US-amerikanische Präsident Barack Obama in einer Fernsehansprache die Tötung Osama bin Ladens bekannt. Jay Carney, Sprecher des Weißen Hauses, ergänzte am 3. Mai 2011: „Bin Laden was shot and killed. He was not armed.“ Zuvor soll sich eine im Raum des Anwesens befindliche Frau den Soldaten genähert haben, der „von den Soldaten ins Bein geschossen, [die] aber nicht getötet worden“ sein soll.
Die Menschen in den USA, besonders natürlich in der Stadt New York, jubelten ob der Nachricht der Tötung, aber auch unsere Bundeskanzlerin, die sich daraufhin zu dem Kommentar hinreißen ließ: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.“
Er war also noch nicht einmal bewaffnet! Auch wenn von einer „Gegenwehr gegen die Verhaftung“ gesprochen wurde (alle Zitate bisher: ZDF, heute journal [sic!] vom 3. Mai 2011, 21.45 Uhr), so darf man doch davon ausgehen, dass die Spezialeinheit bestens gegen eine solche eingestellt und in der Lage gewesen sein sollte, darauf zu reagieren, ohne gleich den finalen Todesschuss zu setzen. Anscheinend handelte es sich um eine sogenannte „gezielte Tötung“, um einen Mord im Staatsauftrag. Und solche kennen wir aus der Geschichte der USA nun genügend.
Auge um Auge
„[…] so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“, heißt es im Alten Testament im 2. Buch Mose, Abschnitt 21, Verse 23 bis 25. Auch in der islamischen Rechtsprechung ist dieses Prinzip bekannt, wenngleich die Ausübung dieser Selbstjustiz an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, ebenso in der jüdischen. (Ein Grund mehr vielleicht, weshalb der Nahostkonflikt möglicherweise niemals gelöst werden wird, da doch beide Seiten immer noch in dieser Tradition zu verharren scheinen, und zusätzlich, da bin Laden diesen Konflikt noch als Ursache für seinen Hass gegen die westliche Welt nahm und weiter aufheizte.)
Die christliche Rechtsprechung und das Neuen Testament relativieren dieses Prinzip im Sinne der Nächstenliebe jedoch immer wieder. Etwa in Jesu Aussage (Matthäus 5, 38):
Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.
Hat Obama nicht gesiegt?
Ist die gezielte Tötung, selbst wenn es sich um einen Terroristen handelte, nun tatsächlich gerechtfertigt, moralisch und juristisch? Hat bin Laden nicht dadurch, indem er unsere Rechtsprechung und unser Rechtsempfinden im Sinne alt-testamentarischer Glaubensauffassungen revidiert und durchgesetzt, unsere Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt hatte, nicht doch einen Sieg über die westliche Welt erfahren? Noch dazu, wenn die Antiterrorgesetze keineswegs eingeschränkt werden sollen, wie bereits einige Politiker erklären?
Und gehört diese gezielte Tötung sowie viele weitere Einmischungen in die Unabhängigkeit anderer Völker bis hin zu Krieg zum Demokratieverständnis, das die US-amerikanische Großmacht so gerne der Welt vermitteln will?
Auge um Auge, Zahn um Zahn?
(Siehe auch „Osamas gefährlicher Tod“ bei Hebel macht Mittag; ähnlicher Beitrag: „Kachelmann ein Vergewaltiger?“)
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“
Jesus von Nazareth
„Man sagt es harmlos, wie man Selbstverständlichkeiten auszusprechen pflegt, dass der Besitz der Produktionsmittel dem Kapitalisten bei den Lohnverhandlungen den Arbeitern gegenüber unter allen Umständen ein Übergewicht verschaffen muss, dessen Ausdruck eben der Mehrwert oder Kapitalzins ist und immer sein wird. Man kann es sich einfach nicht vorstellen, dass das heute auf Seiten des Besitzes liegende Übergewicht einfach dadurch auf die Besitzlosen (Arbeiter) übergehen kann, dass man den Besitzenden neben jedes Haus, jede Fabrik noch ein Haus, noch eine Fabrik baut.“
Silvio Gesell
„The greatest tragedy in mankind’s entire history may be the hijacking of morality by religion.“
Arthur C. Clarke
Die Aussagen von wahren Genies bleiben für gewöhnliche Menschen unverständlich, und selbst den Gelehrten und ernsthaften Studenten können sie nur mit Mühe sinnhaftig werden.
Danke für den Kommentar, aber so „unverständlich“ sind diese Zitate keineswegs!
Zum ersten: unvorstellbar als Reaktion einer Weltmacht, etwa auf die Anschläge des 11. September 2001, und interessant, dass es meist verkürzt angewandt und damit missverstanden wird; zum zweiten: Von einer Arbeiterklasse kann man heute wohl kaum noch sprechen, eher von Dienstleistern; und zum dritten: Das Wort „Religion“ könnte man auch durch „politische Systeme“ ersetzen oder damit ergänzen. Der Autor war hier zuerst geneigt, nur von „Kapitalismus“ zu sprechen, doch die Alternative hat sich leider als genauso bedenklich erwiesen.
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