Der Joint
oder Muss Nutte sein
(Sommersonnenwende, achter Teil)
Zwei dunkel und in ihren Augen mit protzigen Sporthosen und -schuhen, Kapuzenpullovern und Bomberjacken modisch gekleidete junge Männer hocken auf den Resten einer Mauer, die etwas versteckt vor einer mit Gestrüpp und kleineren Bäumen bewachsenen Brachfläche von einem Abrisshaus übrig geblieben war. Er hatte sie vorher nicht bemerkt. Da es nicht unbedingt nach einem Raubüberfall aussieht und er seinen Mitmenschen zunächst vertraut, auch wenn sie in Welten leben, die nicht nur Generationen von seiner trennt, tritt er auf sie zu und hält ihnen seine flache Zigarettenpackung mit der im Rauch tanzenden Zigeunerin hin. Davon werden sie vermutlich umkippen, denkt er sich schmunzelnd.
Da bemerkt er, dass der eine mehrere zusammengeklebte Zigarettenpapierchen in der einen und etwas anderes versteckt in der anderen Hand hält. Sie wollen sich einen Joint bauen und brauchen eine leichte Zigarette; seine wären eindeutig viel zu stark dafür! Während der eine schon zugreifen will, macht er sie darauf aufmerksam.
„Ich mache euch einen Vorschlag: Ich hole hier irgendwo leichte Zigaretten und ihr lasst mich mal einen Zug mitziehen.“
„Cool, Alter!“, antwortet einer von ihnen.
Nachdem sie ihm erklärt hatten, wo in der Nähe eventuell noch eine Trinkhalle offen ist und wo es eventuell noch einen Zigarettenautomaten gibt, macht er sich auf den Weg. Die beiden Jungs folgen ihm in einigem Abstand, über irgendetwas Witze machend (möglicherweise sogar über ihn, aber das nahm er in Kauf), gelegentlich laut lachend und sich abklatschend.
Schließlich finden sie tatsächlich noch eine Trinkhalle, die zu dieser inzwischen schon späteren Zeit des Abends noch offen hat. Einige trunkene Gestalten, darunter eine Frau, deren Alter schwer einzuschätzen ist und die einmal gut ausgesehen haben muss, lungern noch um sie herum, leicht erkennbar als ursprüngliche Bewohner dieser Gegend, die durch die neuen immer mehr aufs Abstellgleis geschoben werden. Sie wollen ihm den Platz vor dem Verkaufsfenster zunächst nicht freimachen, weil sie glauben, dass er zu denen gehört, die hier die Mieten in die Höhe treiben, und zudem keineswegs nüchtern und, dadurch beflügelt, äußerst misstrauisch bis aggressiv sind. Hier bahnen sich noch soziale Konflikte an, mutmaßt er.
Nachdem der Inhaber ein Machtwort gesprochen hat, schließlich will er sich das zu erwartende Geschäft nicht vermiesen lassen, bestellt eine leichte Zigarettenmarke und fragt die beiden Jungs, ob sie etwas zu trinken haben wollen. Mit einem erneuten „Cool, Alter“ entscheiden sie sich für Cola. Er bestellt sich ein Bier. Dann verziehen sie sich auf eine Bank in einer kleinen Grünanlage hinter dem Kiosk.
Er verspürt immense Lust, wieder einmal etwas zu rauchen. Der süßlich-schwere Geruch steigt ihm beim Anzünden des Joints sofort in die Nase. Schon nach den ersten beiden Zügen merkt er, wie eine wohlige, wattige Nebelbank von seinem Kopf Besitz ergreift. Er wird ruhiger, gelassener, während die beiden so tun, als würden sie nichts von der Wirkung merken: Sie scherzen weiter, klatschen sich hin und wieder ab. Reines Jungmännergehabe, denkt er, sie wollen sich nichts anmerken lassen. Worüber sie sich (gedämpft, zum Glück!) unterhalten, interessiert ihn weniger.
Dem Rausch des Haschischs oder des Marihuanas hatte er, seitdem er ihn die ersten Male genossen hatte, immer lieber hingegeben als dem des Alkohols. Nach einer Phase eines zeitweiligen Alkoholismus mit einem Überkonsum, den er sich selbst natürlich nie eingestanden und der ihn fast an einen körperlichen und geistigen Abgrund geführt hatte, war ihm der Verzehr dessen fast schon zuwider geworden, und er trank nun zwar noch regelmäßig, aber mäßig. Wie anders doch dagegen das Kiffen: Während man durch die Wirkung übermäßigen Alkoholkonsums geradezu aus seinem Körper entfleucht, sich quasi in jemand anderen wandelt, indem man etwa draufgängerischer, enthemmter wird, so bleibt man im Haschischrausch doch stets bei sich; er ändert einen nicht, sondern führt einen im Gegenteil zu sich selbst, allerdings auch zu seinen Seufzern, Schwankungen und Ängsten! „Man glaubt sich einer Sühne unterworfen“, meint er bei Baudelaire gelesen zu haben. Und: Man kann so viel trinken, bis man in ein Delirium fällt, gar der Tod eintritt, doch es gibt kaum eine Steigerung nach dem Genuss von Cannabis! Aber: „Er steigert die Phantasie und die Genialität, aber auch die Unmöglichkeit, diese einzusetzen“, wie es so ähnlich auch Baudelaire ausdrückte, und aus diesem Grund (und weil er keinen regelmäßigen Lieferanten mehr gefunden hatte) gab er sich diesem Genuss auch nur noch sehr selten hin, doch wenn, dann umso mehr.
Als sie ihn fragen, was er in dieser Gegend macht, ob er hier wohne, hört er es zunächst nicht. Erst als er ein „Ey, Alter, isch glaub‘, der is‘ bekifft!“ und ein Lachen der beiden Jungs hört, die sich darauf erneut abklatschen, dämmert ihm, dass sie nur ihn meinen können. Langsam kommt ihm wieder zu Bewusstsein, weshalb er überhaupt hier gelandet ist: Er hat eine Einladung zu einer Party seiner Bekanntschaft, die er plötzlich sehr vermisst! Durch den beginnenden Rausch etwas mundfaul geworden, erzählt er es ihnen.
„Alter, ey, isch glaub’, die is’ ’ne Nutte!“
Nachdem er erzählt hatte, dass sie Bibliothekarin ist, und sich vergewissert hat, dass sie dieselbe Frau meinen, ergänzt der andere: „Ja, Alter, kommt und geht immer mit andere Mann. Muss Nutte sein …“
(Fortsetzung: Die Party)
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