Wahlbeteiligung: Armut wählt nicht
Je geringerer die Wahlbeteiligung, desto häufiger ist von „Wahlmüdigkeit“ oder „Politikverdrossenheit“ die Rede. Doch greift das? Die Welt spaltet sich immer mehr in Arme und Reiche. Das ist auch in Deutschland der Fall. Die untere Hälfte der Gesamtbevölkerung besitzt nur etwa ein Prozent des Nettogesamtvermögens. Mit der materiellen wächst auch die politische Ungleichheit. Das äußert sich auch im Wahlverhalten: Die Wahlbeteiligung sinkt immer mehr, denn Armut wählt nicht.
Wie im 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung veröffentlicht, verfügen die reichsten 10 Prozent der Gesamtbevölkerung über 53 Prozent des Nettogesamtvermögens, die ärmere Hälfte nur etwa über ein Prozent. Zudem steigt das Privatvermögen der Reichen weiter, während die Mittel- und Unterschicht über immer weniger private Mittel verfügt. (Siehe hierzu „Armutsrisiken in Deutschland. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“!)
Unterschiedliche Teilhabe gefährdet die Demokratie
US-Amerikanisierung unseres Lebens
Der Politikwissenschaftler und Autor (Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2012) Christoph Butterwegge macht in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau vom 25./26. Oktober 2014 darauf aufmerksam, dass wir uns nicht nur einer „US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes (Herausbildung eines Niedriglohnsektors und eines lukrativen Bonussystems für Spitzenverdiener) und der US-Amerikanisierung des Wohlfahrtsstaates (Reprivatisierung privater Risiken)“, einer „US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung in Arm und Reich) und eine[r] US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung (Zerfall der Großstädte in Luxus- und Elendsquartiere [wobei Letztere immer mehr an die Stadtränder gedrängt werden; Anmerkung des Autors])“, sondern auch einer „US-Amerikanisierung der politischen Kultur und des politischen Systems, das nur mehr die Mittel- und Oberschicht repräsentiert, während die Unterschicht zunehmend resigniert und sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht“, näherten.
Wahlmüdigkeit? Nicht in allen Schichten!
Aufgrund der immer geringeren Wahlbeteiligung ist auch immer öfter von „Wahlmüdigkeit“ oder „Politikverdrossenheit“ die Rede. Doch der Niedergang der Wahlbeteiligung ist nicht überall gleich verteilt. Eine von Butterwegge zitierte Untersuchung in Köln ergab, dass die Wahlbeteiligung in einem Hochhausviertel auf Tiefstwerte fiel, während sie in einem noblen Villenviertel auf sogar 89 Prozent stieg. Die Wahlabstinenz verteile sich also nicht gleichmäßig über alle Schichten, sondern sei „vorwiegend die Konsequenz einer prekären Existenz“. Und dieses Wahlverhalten, obwohl nicht neu, präge sich angeblich „viel deutlicher als früher aus“. Er folgert daraus, dass „Arme […] nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt“ werden. Das Fatale daran:
Insofern kann man von einer doppelten Ausgrenzung der Armen sprechen. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum ausgerechnet jene politischen Kräfte, die um eine Sicherung der Privilegien kapitalkräftiger Interessengruppen bemüht sind. So entsteht ein Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Wahlabstinenz sozial benachteiligter Menschen und einer deren Interessen vernachlässigenden Regierungspraxis.
Anders ausgedrückt:
Von einer angemessenen politischen Vertretung der Armen kann heute kaum noch gesprochen werden, während die Interessen der Reichen […] stark überrepräsentiert sind.
Butterwegge kommt zu dem Schluss:
Ein Staat, welcher Armen und Reichen unterschiedliche Chancen der Partizipation und der parlamentarischen Repräsentation einräumt, verliert seine demokratische Legitimation.
Demokratie bedeutet, dass jede und jeder über politische Entwicklungen und Entscheidungen mitbestimmen kann. Dazu müssen jedoch die Mittel vorliegen, um auch an entfernten Orten an Bildungs- und politischen Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen usw. teilnehmen zu können. Doch wie soll das jemand, der „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ erhält und sich schon Mitte oder spätestens gegen Ende des Monats Gedanken machen muss, wie er mit der verbleibenden Unterstützung auskommt?
Politik gibt den Armen die Schuld
Laut Butterwegge lässt sich dieser Zustand nur ändern, „wenn diese [die politischen Parteien; Einfügung vom Autor] bereit wären, an den sozialökonomischen Rahmenbedingungen zu rütteln, die Verteilungsverhältnisse gerechter zu gestalten und die Reformen der marktradikalen ‚Agenda‘-Epoche zurückzudrehen“. Doch in einem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System, das Wirtschaftswachstum und die Finanzmärkte an oberste Stellen setzt und in dem Wirtschaftsverbände, Großbanken und Lobbyisten die Politik bestimmen und die Richtung, in die sich eine Gesellschaft entwickelt, gibt man mit den Begriffen „Wahlmüdigkeit“ oder „Politikverdrossenheit“ lieber den Betroffenen die Schuld.
Verweis zum Thema:
Christoph Butterwegge: Wahlbeteiligung: Aufstand der Armen?, Der Freitag vom 28. September 2013
Nachtrag vom 20. Dezember 2014:
16,2 Millionen Deutsche sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das ergab eine Auswertung im Rahmen der Erhebung „Leben in Europa“ (EU-SILC), wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Demnach ist jeder Fünfte (20,3 Prozent der Bevölkerung) hierzulande armutsgefährdet. Laut EU-Definition der Indikatoren für die Bundesrepublik waren im Jahr 2013 16,1 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht, 5,4 Prozent der Menschen von erheblicher materieller Entbehrung betroffenen und 9,9 Prozent lebte in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung. Sind eines oder mehrere Kriterien erfüllt, gilt eine Person als arm.
Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben 20,2 Prozent der Menschen keinerlei Rücklagen und 7,4 Prozent sogar Schulden. Alle diese sind also nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von Armut entfernt.
Die Tendenz zu geringer Wahlbeteiligung kann von daher tatsächlich steigend sein!
Nachtrag vom 10. März 2016:
„Kommunalwahl: ‚Gerade die Armen gehen nicht wählen‘“, ein Interview mit der Wahlforscherin Sigrid Roßteutscher über die Beteiligung an der Kommunalwahl 2016 in Frankfurt am Main, vom 8. März 2016
Nachtrag vom 17. Dezember 2016, ergänzt am 27. Dezember 2016:
Nun haben wir es quasi amtlich, auch wenn die entsprechenden Textpassagen aus dem Entwurf des im Frühjahr 2017 erscheinenden Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung gestrichen wurden; Ergebnisse einer Studie übrigens, die sie selbst in Auftrag gegeben hatte:
Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Zahl von Menschen mit höheren Einkommen unterstützt wird.
Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen interessiert.
(Zitiert nach der Frankfurter Rundschau vom 16. Dezember 2016; siehe dazu auch bei LobbyControl „Armuts- und Reichtumsbericht: Bundesregierung zensiert unliebsame Studie“ vom 15. Dezember 2016.)
Na, ist denn der Kapitalismus nicht ein Segen für die Menschheit? Wird es uns allen denn nicht besser gehen, wenn erst mal satanische Freihandelsabkommen wie CETA, TTIP, und wie sie alle heißen, durch sind? Ja, sollen die Superreichen denn keine Steuervorteile genießen? Und außerdem: wer Arbeit sucht, findet auch welche. Mit 4,30 Euro pro Tag kann man sich gut ernähren und satt werden. Es muss ja nicht immer Kaviar und Hummer sein.
Also, ich meinte: für das gemeine Volk. Da reichen doch Brot und Spiele.
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