Mein Meer
Früher diente das Mittelmeer dem Handel und der zivilen Schifffahrt. Das hat sich geändert. Heute kann das Mittelmeer, wenn es uns gelingt, es in das zurückzuverwandeln, was es einmal war, eine herrliche Badewanne sein. Oder: Es wird zu einem Becken, in dem ein Kind in drei Zentimeter tiefem Wasser ertrinkt. Leider bewahrheitet sich inzwischen letztere Vermutung. Dass dieses Meer, diese Verbindung – denn das Meer ist eine Verbindung – zu etwas Trennendem wird, ist ein Frevel gegen das Meer selbst; es erscheint mir wie eine Gotteslästerung. Meines Erachtens liegt eine enorme Gefahr in der Art und Weise, wie die Staaten das Problem der Migration angehen. Das Abschotten der Grenzen auf See wie an Land soll dafür sorgen, sie unüberwindbar zu machen. Auf See bedeutet eine unüberwindbare Grenze in neunzig Prozent der Fälle den Tod desjenigen, der sie zu überwinden versucht. Wenn ich von den vielen Toten im Mittelmeer höre, muss ich immer an einen Satz von Aischylos denken: „Die Leichen treiben in brandender See.“ Dabei klingt „treiben“ fast harmlos für die Brutalität dieses Bildes. Heute ist das Meer förmlich mit Leichen übersät. Aber wie groß ist das Bewusstsein all dessen? Was fehlt, ist Mitleid, Verständnis für die anderen. Und das wäre am allernötigsten.
Gekürzt aus Andrea Camilleri: Mein Meer, in Katharina Bürgi (Herausgeberin): Sizilien und Palermo – Eine literarische Einladung, Berlin 2018; hier transkribiert aus den „Radiotexten am Dienstag“ in Bayern 2 „‚Das Meer schläft nie‘ (2/2) – Legenden und Anekdoten rund um die Weltmeere“ vom 3. Juli 2018. Andrea Camilleri, * 6. September 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, † 17. Juli 2019 in Rom, italienischer Drehbuchautor, Theater- und Fernsehregisseur und Schriftsteller, z. B. von Kriminalromanen: Commissario Montalbano.
Siehe hier auch „Einfache Fahrt“, „Erst stirbt das Recht, dann der Mensch“, „Einfach in die Wüste geschickt? Na also, geht doch!“ und „Lieber Gutmensch als Schlechtmensch!“
Das Wort „treiben“ drückt für mich allerdings die ganze Hilflosigkeit aus, die der/die/das Betroffene erlebt. Ganz im Gegensatz zu Mittelmeerurlaubern, die sich durch den Tag treiben lassen oder vielleicht auch in den Wellen der Brandung des Badestrandes.
Verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst, aber der Autor bzw. der zitierte Aischylos sprechen ja von Leichen – ist das nicht das Nonplusultra von Hilflosigkeit? Die Hilflosigkeit an sich? Und ist man als Leiche überhaupt noch „Betroffener“? War man das nicht eher, als man noch lebte? Und im Meer trieb? Dass das Wort „‚treiben‘ fast harmlos für die Brutalität dieses Bildes“ klingt, sagt der Autor ja selbst!