Lieber Gutmensch als Schlechtmensch!
„Wenn man die aktuellen Ereignisse in Deutschland, aber auch in Europa betrachtet, kann einem angst und bange werden.“ So beginnt ein Gastkommentar von Cornelia Tiedemann zur aktuellen Diskussion „Links gegen rechts“, zur Debatte um Flüchtlinge und Migration und zur Verrohung der Moral. Ihr Fazit: lieber Gutmensch als Schlechtmensch!
Ein Gastkommentar zur aktuellen politischen Situation
Von Cornelia Tiedemann
Wenn man die aktuellen Ereignisse in Deutschland, aber auch in Europa betrachtet, kann einem angst und bange werden.
Die Flüchtlinge sind häufig nur der (äußere) Anlass dafür, der Rechtsradikale und eine einseitig informierte (oder auch „nur spießbürgerliche“) Mitläuferschaft auf die Straße treibt. Wobei es meines Erachtens von immenser Bedeutung ist, sich vielfältig zu informieren und selbst, auch als die Medien, unbedingt deren menschenverachtendes Vokabular zu meiden (Flüchtlingsflutflut/-welle, Höchstgrenze usw.) und selbst aktiv gegen „Rechts“ zu werden.Gegen Rechts ist nicht zwangsläufig links
Wer heutzutage gegen „(ganz) Rechts“ demonstriert, ist nicht zwangsläufig links. Es heißt ja immer gerne in den Medienberichten – auch heute wieder – die „rechten Demonstranten gegen die linken Demonstranten“. So mag vielleicht mancher aus der Mitte (was auch immer das genau ist) nicht demonstrieren, weil er weder ganz Rechts noch ganz Links steht. Es verzerrt das Bild. Unser Land, unsere Demokratie, Europa, geht schließlich uns alle an! Es sollte auch nicht um eine linke Sammlungsbewegung gehen. Nicht links, sondern demokratisch, um alle Nicht-Rechten, alle Nichtfaschisten, einbinden zu können.
Das Sterben der Flüchtlinge
Wie viele zigtausend oder hunderttausende Menschen sind im Mittelmeer und in der nordafrikanischen Wüste auf der Flucht bereits gestorben? Meer und Wüste werden uns dies nie sagen. Schiffe haben Auslaufverbot, Suchflugzeuge dürfen nicht mehr starten. Es soll verheimlicht werden. Die wenigsten werden an den Küsten angeschwemmt oder als Gerippe in der Wüste gefunden.
Wer schreibt noch darüber, wer berichtet davon? Das Sterben geht in unserem Alltag unter.
Auf Stimmenfang im rechten Lager
Wenn dies alles billigend in Kauf genommen wird, weil eine politische Mehrheit sich gegen den Flüchtlingsschutz ausspricht, diesen immer mehr einschränkt und damit bei den rechten Wählern auf Stimmenfang geht, dann erinnert mich das an die Massenmorde vergangener Zeiten. Da wird von Lagern außerhalb Europas geredet und es werden korrupte und menschenverachtende Regime unterstützt. Sklavenhandel und Vergewaltigungen in Libyen werden billigend in Kauf genommen. Warum wohl sterben Menschen lieber auf dem Mittelmeer als in Libyen oder Algerien zu bleiben? Mal abgesehen davon, dass Flüchtende nicht genau wissen können, was für eine Überfahrt sie erwartet: Sie buchen schließlich keine Kreuzfahrt im Reisebüro!
Wer will Sklavenhandel und Vergewaltigungen und Folter denn verhindern, wenn wir dort Lager einrichten? Und welche Perspektive haben die Menschen, selbst wenn sie dort sicher leben könnten? Was wird aus den Kindern und Jugendlichen, die dort aufwachsen? Frustrierte Attentäter von morgen? Junge Menschen, die politischen oder religiösen Rattenfängern auf den Leim gehen? Sind integrierte Flüchtlinge in Deutschland oder anderen europäischen Ländern nicht besser aufgehoben?
Von Straftätern und Abschiebungen
Und was wird mit abgeschobenen Straftätern? Werden die in den instabilen nicht demokratischen Ländern vielleicht gleich wieder freigelassen oder kommen gar nicht erst in Haft und bald über die grüne Grenze erneut zu uns? Ich bin für Haft in Deutschland, auch wenn dies natürlich mit Kosten verbunden ist, aber geht es um Kosten oder um Wahlkampf und Polemik? Jeder Abschiebeflug kostet immense Summen und muss kostspielig von vielen Beamten begleitet werden (im Übrigen ein gefährlicher Einsatz, wenn man an das kriegsgeschüttelte Afghanistan denkt).
Inzwischen weiß man auch, dass die allerwenigsten Abgeschobenen Straftäter oder Identitätsverweigerer sind. Es geht nur um Politik und um Wahlkampf gegen eine rechtsradikale AfD. Da werden bspw. integrierte Menschen direkt vom Arbeitsplatz abgeschoben – teils noch in ihren Arbeitsklamotten mit Firmenlogo! Warum? Auch die Arbeitgeber protestieren zunehmend. Wir beabsichtigen Pflegekräfte zu importieren, schieben aber hoch motivierte und integrierte junge Afghanen, die genau das schon gut machen oder machen wollen, ab.
Und was geschieht mit den Sachen der Abgeschobenen hier in Deutschland, die sie in mehreren Jahren Aufenthalt hier erworben haben? Wer bereichert sich? Wer hat schon seinen Pass und im Laufe der Jahre in Deutschland erworbene Wertgegenstände, Zeugnisse etc. dabei, wenn er/sie zur Arbeit geht? Warum müssen Pflegekinder in deutschen Familien, die dort jahrelang aufgewachsen und als Familienmitglieder völlig integriert waren, nach ihrem 18. Geburtstag an Selbstmord denken, weil sie Abschiebung in ein Land fürchten müssen, dass sie nicht oder kaum kennen und in dem sie keine Verwandten mehr haben? Und eine verstörte, traurige deutsche Familie bleibt außerdem zurück. Und warum schieben wir Menschen vom Krankenbett ab? Vier Tage nach einer Bauchoperation, die Fäden noch nicht gezogen! Alles für Wahlkampfzwecke!
„Fluchtursachen bekämpfen“ und Waffen liefern
Und warum, wenn wir – angeblich – Fluchtursachen bekämpfen wollen, liefern wir Waffen in die Türkei, mit denen in Syrien syrische Kurden getötet werden? Flüchtlingsdeal statt Menschenrechte? Warum erfolgen immer noch Abschiebungen in die Türkei, das aktuell von Rechtsstaatlichkeit weit entfernt ist. Warum unterstützen wir Saudi-Arabien, das eine Katastrophe im Jemen (mit-)verursacht? Öl statt Menschenrechte? Interessen der Rüstungsindustrie first?
Das christliche Abendland: „Absaufen! Absaufen!“
Aber dann hört man einen Teil der Bevölkerung schreien: „Absaufen! Absaufen!“ Sie meinen Menschen, die sterben sollen, weil Deutschland (zuerst und die anderen europäischen Ländern auch) wieder „reinrassig“ werden soll. Denn es sind ja die fremd Aussehenden, die Angst vor rechten Schlägern haben müssen. Dass der in Chemnitz erstochene Deutsche farbig ist und teils kubanische Wurzeln hat, ist grotesk, ändert aber nichts an den Zielen der Rechtsradikalen.
Dass man sich in den Protestkreisen ausgerechnet auf das christliche Abendland beruft, ist geradezu lächerlich, nicht nur weil es in Ostdeutschland prozentual weniger gläubige Christen gibt als im Westen, was mit der DDR-Geschichte zu tun hat, aber was hätte Jesus zu den „Absaufen“-Schreiern gesagt?
Lieber Gutmensch als Schlechtmensch
Seien wir doch mal wirklich christlich, ob nun gläubig oder nicht – es geht nicht um Religion! Seien wir menschlich im guten, im besten Sinne. Lieber Gutmensch als Schlechtmensch! Wie fies muss jemand eigentlich denken und fühlen, wenn er das Wort Gutmensch bildet und gegen seine Gegner benutzt?
Die AfD und die Medien
Wenn die AfD via Facebook (inzwischen gelöscht) von einer Revolution und vom nachfolgenden Sturm auf Medienhäuser schreibt, dann kann jede/r (mehr als) ahnen, was manche Kreise in diesem unserem Lande planen. Und vergleichbar undemokratische und gewalttätige Aussagen kursieren in rechten Kreisen doch schon länger: „Wir werden sie jagen“ (Gauland über die Bundesregierung und andere Politiker/-innen). Die AfDler rutschen ja angeblich immer von ihren Mäusen ab, aber ich befürchte, dass es nicht mit neuen Mäusen und Schulung der Handhabung derselben getan ist.
Unsere Medien sind die vierte Gewalt im Lande. Sie sind laut Verfassung zu schützen! Wenn Journalisten in diesem Land nicht mehr in ihrer Arbeit geschützt sind, wenn Behörden Abschiebungen vornehmen, obwohl Gerichtsbeschlüsse noch nicht rechtskräftig sind, oder Aussagen der Behörde gegenüber dem Gericht wie „am 12. ist keine Abschiebung geplant“ das Gericht in Sicherheit wiegen sollen, aber der Platz im Flieger für den 13. längst gebucht ist, wenn Gerichte Zwangsgelder gegen Kommunen verhängen müssen, dann ist der Rechtsstaat und unsere Demokratie insgesamt in Gefahr, auch wenn es noch nur Einzelfälle sind. Aber erfahren wir alles? Auch wenn einzelne Abgeschobene kostspielig zurückgeholt werden können. Andere verschwinden in Arbeitslagern oder werden umgebracht, tauchen nie wieder auf (wie neulich der Uigure). Und wer hat nach einer Abschiebung schon so intensive Unterstützung aus Deutschland, dass man ihn/sie tatsächlich zurückholt?
„Warum habt ihr das zugelassen?“
Ich bin entsetzt und bestürzt, dass ich solche Zeiten erleben muss.
Bisher waren es nur die Geschichten der Alten, der Elterngeneration, die man mit Schaudern angehört hat, und viele haben sich (und ihre Eltern) gefragt: „Warum habt ihr das zugelassen?“
Vor 1933 konnte man sich vielleicht noch wehren. Danach war es sicherlich sehr schwer und gefährlich, sich in dem Regime zur Wehr zu setzen. Wer will schon in Haft oder KZ landen oder als Kanonenfutter an der Ostfront?
Heute leben wir (noch) in einem freien Land und wir ALLE sollten die Freiheit nutzen, diese zu verteidigen!
„Als die Nazis die Kommunisten holten …“
Ein altes Zitat zum Nachdenken, an das ich immer öfter denken muss:
Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.
(Zitat von Martin Niemöller, deutscher evangelischer Theologe, * 14.01.1892, † 06.03.1984)
Weitere Verweise
- Chemnitz: Wir haben ein Problem.
- „Einfach in die Wüste geschickt? Na also, geht doch!“
- Erst stirbt das Recht, dann der Mensch
- Das Asylrecht soll weg
- Alles schon mal dagewesen!
- Süddeutsche Zeitung: „Abschiedskolumne: Der Untergang“ vom 5. Juli 2018
- SPIEGEL ONLINE: „Rechtsextremismus: Endlich die Ängste ernst nehmen“ vom 28. Juli 2018
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