„An Inspector Calls“
Bei manchen Filmen reicht deren bloße Erwähnung aus, um selbst Jahre später wieder die Emotionen hervorzurufen, die man beim ersten Ansehen empfunden hatte. Der britische Fernsehfilm „An Inspector Calls“ nach dem gleichnamigen Theaterstück des englischen Schriftstellers und Journalisten John Boynton Priestley gehört dazu. Er ist geeignet, Zuschauende zutiefst erschüttert zurückzulassen.
Es ist das Jahr 1912. Familie Birling, offensichtlich einer gehobeneren Schicht angehörig, feiert die Verlobung ihrer Tochter mit dem Spross einer Industriellenfamilie. Jene steht in Konkurrenz zu der des gastgebenden Patriarchen, eines Fabrikbesitzers, und außerdem gesellschaftlich höher als er. Er erhofft sich durch diese Verbindung den Zusammenschluss der beiden Firmen. Und seinen eigenen gesellschaftlichen Aufstieg!
Mitten in des Oberhaupts Rede darüber, dass jeder seines Glückes Schmied sei und alles Gerede von gesellschaftlicher Verantwortung nichts gelte, meldet die Dienerin die Ankunft eines gewissen „Inspector Goole“. Dieser erklärt sein Erscheinen damit, dass in der nordenglischen Industriestadt, in der die Handlung angesiedelt ist, eine junge Tote gefunden wurde. Sie stammte aus einer der untersten sozialen Schichten und hatte Suizid begangen. Seine Ermittlungen hatten ergeben, dass sie früher Arbeiterin in der Weberei des Oberhaupts gewesen war.
Nach und nach verhört der Kriminalbeamte alle Familienmitglieder. Es stellt sich heraus, dass alle, also das Oberhaupt, seine Frau, seine Tochter und sein Sohn sowie der zukünftige Schwiegersohn, durch ihr Verhalten ihren Anteil daran hatten, dass die junge Frau immer weiter in die Armut abrutschte. Aus dem sie schließlich keinen anderen Ausweg mehr sah als die Selbsttötung.
Bis auf die Rückblenden findet die Handlung in einer einzigen Nacht in einem einzigen Raum statt: dem Esszimmer der Familie. Da eine Selbsttötung kein strafbares Delikt darstellt und allen Anwesenden kein kriminelles Motiv zu unterstellen ist, bleibt dem Inspektor nicht anderes übrig, als sich zu verabschieden. Er tut dies schließlich mit den Worten:
But just remember this. One Eva Smith has gone — but there are millions and millions and millions of Eva Smiths and John Smiths still left with us, with their lives, their hopes and fears, their suffering and chance of happiness, all intertwined with our lives, and what we think and say and do. We don’t live alone. We are members of one body. We are responsible for each other. And I tell you that the time will soon come when, if men will not learn that lesson, then they will be taught it in fire and blood and anguish. Good night.
(Zitiert nach BBC Bitesize: Inspector Goole in An Inspector Calls. Characters. In der deutschen Synchronisation: „Doch bedenken Sie eins. Es sind Millionen und Abermillionen von Eva Smiths und John Smiths unter uns mit ihren Leben und Hoffnungen und ihren Ängsten. Ihre Leiden und Chance auf Glück sind eng verwoben mit unseren Leben und dem, was wir denken und sagen und tun. Wir leben nicht allein auf dieser Erde. Wir sind verantwortlich füreinander. Und wenn die Menschheit diese Lektion nicht lernt, dann wird bald die Zeit kommen, die es ihr lehrt: in Feuer und Blut und Elend. Gute Nacht.“)
Boynton schrieb das Drama übrigens kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die im Film gezeigte Familie sollte diesen und den vorigen noch vor sich haben!
„An Inspector Calls“ unter der Regie der irischen Regisseurin Aisling Walsh aus dem Jahr 2015 ist imstande, jemanden zutiefst zu erschüttern. Aber nicht nur die Mitschuld sämtlicher Anwesenden an diesem Todesfall trägt hierzu bei. Nein, auch das Rätsel um „Inspector Goole“, das sich gegen Ende noch auftut. Erkundungen des Oberhaupts und des Schwiegersohns ergeben nämlich, dass es weder ihn noch einen Suizid gibt. Bis das Telefon klingelt: An inspector calls …
Mehr über den Film bei BBC One: „An Inspector Calls“ (englisch). Aktualisierung: Der deutsche Fernsehsender One zeigt ihn erneut in mehreren Wiederholungen und bis zum 18. April 2024 in der Mediathek. Auch der Abruf im englischen Originalton wird möglich sein! Der WDR, der für das redaktionelle Angebot von One zuständig ist, schreibt:
„An Inspector calls” ist sowohl ein fesselnder Krimi als auch eine vernichtende Kritik an einer heuchlerischen, von Klassenunterschieden geprägten Gesellschaft.
(Siehe hier etwa auch „‚Die Reifeprüfung‘, 55 Jahre später“ und „Tausendschönchen – kein Märchen“ sowie „Über die sinnlose Bedrohung durch Gewalt“!)
Kommentare
„An Inspector Calls“ — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>