Privat
„Privat“ scheint ein Wort aus der Vergangenheit zu sein. Soziale Netzwerke, Mobiltelefonkameras, Talkshows und schnellen Internetzugängen, in der auch das Intimste öffentlich ist, scheinen Privatsphäre längst verdrängt zu haben. Eine Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn widmet sich dem Thema der Privatheit in seiner Gesamtheit. Doch vermag eine solche Ausstellung noch an Tabus zu kratzen, gar zu schockieren? Ja, aber die Privatheit anderer Leute kann auch unglaublich langweilig sein!
„Privat“ oder Vom Ende der Intimität
„Privat“ scheint ein Wort aus der Vergangenheit zu sein. Exhibitionismus, Selbstentblößung, Schamlosigkeit und Zeigefreude auf der einen Seite, Voyeurismus auf der anderen, scheinen es in einer Zeit sozialer Netzwerke, Mobiltelefonkameras, Talkshows und schnellen Internetzugängen, in der auch das Intimste öffentlich gemacht wird, längst verdrängt zu haben. Von einer „Post-Privacy“ ist inzwischen die Rede, einer „radikalen Offenheit des Persönlichen“. So wie von der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main definiert, wo zurzeit die Ausstellung „Privat“ zu sehen ist. Sie will „das bislang gültige Konzept von Privatheit in seiner Gesamtheit in Frage“ stellen.„Exkursionen zu den Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen“
Wir sehen Fotografien und Polaroid-Bilder, Filme und Videos, Objekte und Installationen aus der Privatsphäre. Damit sollen „eindrückliche Exkursionen zu den fragilen Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen“ unternommen werden, so im „Schirn Mag“ weiter. Vermag eine solche Ausstellung noch an Tabus zu kratzen, gar zu schockieren? Ja, aber die Privatheit anderer Leute kann auch unglaublich langweilig sein!
Privatheit kann unglaublich langweilig sein.
Beispielhaft für den Wandel der privaten und öffentlichen Moral ist Andy Warhols Film „Blue Movie“ aus dem Jahr 1968. Hierin ist ein Paar („Viva“ und Louis Waldon) zwei Stunden lang zu sehen, wie es kocht, duscht, sich unterhält, aber auch Sex macht. Nach der Uraufführung 1969 wurde er wegen Obszönität sofort beschlagnahmt und verboten. In seinem Film „Sleep“ von 1963 verfolgen wir über sechs Stunden den Schlaf des Poeten John Giorno. Beide Filme wollten damals provozieren, heute mag man sie sich kaum bis zum Ende ansehen. Auch nicht „Keeping Busy“ von Michel Auder aus dem Jahr 1969, der in Anlehnung an „Blue Movie“ entstand.
Sexfilme und die Banalität des Alltäglichen
Dass Sexangebote im WWW sehr zahlreich sind und zu den am häufigsten besuchten Seiten gehören, ahnte man bereits. So kann Mike Bouchets meterlange Videowand aus einem riesigen Mosaik aus Pornofilmen entsprechender Kanäle, die alle parallel laufen, nicht wirklich überraschen. Beim Betrachten der Fotos des chinesischen Künstlers Ai Weiwei aus dessen Weblog, der Essen, Gemüse- und Obstmärkte, Katzen, Bauwerke, aber auch sich selbst mit Freunden abbildet, fragt man sich unwillkürlich, wie dieser Mann zum Dissidenten werden konnte, so banal kommen sie herüber.
Sammlungen von Polaroid-Fotos von Jugendlichen in „Untitled Polaroids“ von Dash Snow aus den Jahren 2001 bis 2009, die in unterschiedlichsten Situationen ihren Spaß festhalten, mögen für die Abgebildeten einen Erinnerungswert gehabt haben. In dieser geballten Anzahl wirken sie jedoch schlicht und einfach langweilig. Einige im Detail ihrer Intimität allerdings auch geradezu abstoßend!
Das Material und die Künstler/-innen von „Privat“
Das gesamte Ausstellungsmaterial von „Privat“ wurde der Schirn nicht etwa von allzu offenherzigen Mitmenschen zur Verfügung gestellt, sondern stammt von Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Genres. Darunter außer den bereits Genannten auch von Merry Alpern, Nan Goldin, Marilyn Minter, Jörg Sasse und vielen anderen. Diese haben jedoch per Berufsauffassung einen ganz anderen Umgang mit Öffentlichkeit und Grenzüberschreitungen.
So sieht man auf den Fotografien und Videos von Leigh Ledare eine nackte, ältere Frau beim Sex, was zunächst nicht schockiert. Erfährt man aus dem Erklärungstext aber, dass diese Frau seine Mutter ist, die ihn bat, diese Aufnahmen zu machen, stellt sich ein gewisser Widerwille ein, zum Zeugen dieses Aktes (und der seltsamen Mutter-Sohn-Beziehung) zu werden. Ebenso bei der gefilmten Geburt von Stan Brakhages erstem Kind von 1959, die sich eigentlich noch nicht einmal als Grund zur Einladung für einen heimischen Filmabend mit Freunden eignet. Die vorher gereichten Schnittchen würden einem möglicherweise ganz schnell wieder aufstoßen!
Und wären wir zu dem Schmalfilm mit dem spielenden Kind im Schnee eingeladen worden (wer erinnert sich nicht an ähnliche Filmchen liebender und stolzer Eltern?), hätten wir weitere Filmabende der Gastgeber wahrscheinlich nie wieder besucht, so langweilig wirkte dieser schon damals, als er entstand. Es sei denn, man ist eines der liebenden und stolzen Elternteile.
Von glücklichen Eltern über halbnackte Teenies zu Schlafenden
Das ungemachte Bett „My Bed“ von Tracey Emins, vor dem diverse Alkoholika und Zigarettenschachteln, volle Aschenbecher und Unterwäsche drapiert sind, erinnert uns eher daran, dass das eigene Matratzenlager von vor langer, langer Zeit ähnlich ausgesehen haben könnte. Nur kamen wir nicht auf die Idee, dieses als Kunstwerk konserviert zu haben. Wenn Evan Baden gestellte Fotoarbeiten von jungen Mädels zeigt, die sich wiederum halbnackt mit ihren Mobiltelefonen selbst fotografieren: Kennt man solche Mädels nicht aus sozialen Netzwerken oder eindeutigen, kommerziellen Dating-Portalen?
Zu den Bildern zur Installation „The Unconscious“ von Mark Wallinger von 2010, auf denen in Nahaufnahme dösende oder schlafende Personen im öffentlichen Raum zu sehen sind, kommt die Frage auf, ob diese mit dem Einverständnis der Abgebildeten angefertigt wurden oder ob eine solche heutzutage nichts mehr gilt.
Einzig die Fotografien von Richard Billingham rechtfertigen als Beispiele sozial engagierter Fotografie, wie wir sie etwa von Sebastião Salgado oder Jacob Holdt kennen, ein öffentliches Interesse. Er wuchs in einem ärmlichen Viertel in Birmingham auf und porträtierte für seinen Bildband „Ray’s a Laugh“ von 1996 seine kettenrauchende, tätowierte Mutter bei ihrem Hobby, dem Puzzlespiel, oder seinen alkoholkranken Vater in deren ungepflegter Wohnung. Aber ist solchermaßen engagierte Fotokunst nicht immer intim, wenn sie Menschen in teilweise extremen Armutssituationen zeigt?
Von mangelndem Datenschutz bis zur Freizügigkeit
Während vor einiger Zeit Menschen bei diesem Suchmaschinenkonzern dagegen protestierten, dass ihr Haus in dessen Ortsansichten zu sehen ist, Soziale-Netzwerk-Plattformen seit Jahren immer wieder wegen des mangelnden Datenschutzes kritisiert werden und sich Menschen gegen die Videoüberwachung öffentlichen Raums einsetzen, präsentieren sich andere freimütig in der Öffentlichkeit. Und sei es nur durch ein mobiles Telefonat. Wer jemals Ohrenzeuge der währenddessen ausgetauschten mehr oder weniger intimen Banalitäten war, weiß, wie langweilig solche für Zuhörer sein können. Schockieren tun allenfalls die Schamlosigkeit, mit der sich manche Menschen unbedingt präsentieren wollen. Und der unbedingte Wille zur Durchsetzung, wenn man sie etwa auf ihre übertriebene Lautstärke beim Telefonieren hinweist!
Der offenherzige Umgang mit der Intimität und Privatsphäre funktioniert nicht ohne Voyeurismus, gerade im großen, weiten World Wide Web. Solange es Leute gibt, die geradezu nach intimen Texten, Bildern oder Videos lechzen, wird es derlei Angebote geben.
Eine neue Zurückhaltung
Allerdings deutet die Ausstellung auch an, dass inzwischen nicht nur angesichts des Überflusses von öffentlich gemachter Privatheit ein Umdenken in Richtung einer neuen Zurückhaltung einsetzt. Höchste Zeit, mag mancher angesichts dieser Sammlung von Intimität und Banalität denken, deren Zeuge wir gewollt in „Privat“ oder ungewollt im täglichen Leben werden. Sie schockiert selten, ist aber meistenteils unglaublich langweilig! Und gerade deswegen ist diese Ausstellung durchaus in der Lage, den Eindruck der Übersättigung und ein Umdenken zu fördern.
Der auffällig vermehrte Einsatz von Wachpersonal, lässt sich in dieser Hinsicht nicht ganz nachvollziehen. Möglicherweise ging die Museumsleitung davon aus, dass es schockierte Zeitgenossen gibt, die ihrer Empörung gegenüber einzelnen Werken Luft machen könnten. Wer aber in diese Ausstellung geht, hat mit Sicherheit auch voyeuristische Interessen. Und wen die Privatsphäre anderer kalt lässt, der besucht sie auch nicht.
Weitere Informationen zur Ausstellung „Privat“:
- „Privat“ im „Schirn Mag“
- „Privat in der Schirn. Intimität war gestern“ im Journal Frankfurt (Kommentar)
Siehe hier auch:
- „Social Media“ und „Bloggen und Intimität“
Pingback:Tödliche Selfies – Ronalds Notizen
Pingback:Trinken Sie Ihr Bier im Internet? – Ronalds Notizen
Pingback:Rachepornos: zum Opfer geworden? – Ronalds Notizen