Trinken Sie Ihr Bier im Internet?
Harald Welzer über die smarte Diktatur
Kürzlich stellte der Autor Harald Welzer sein neuestes Buch „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ in Frankfurt am Main vor. Es handelt vom Verlust der Freiheit durch und der Hinwendung zu einer digitalen Diktatur. Dabei stellte er auch die im Titel genannte Frage „Trinken Sie Ihr Bier im Internet?“. Der Autor dieser Notiz war zugegen. Eine Literaturempfehlung.
Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.
(aus Marie von Ebner-Eschenbach, eigentlich Marie Freifrau Ebner von Eschenbach: Aphorismen, in: Schriften, Band 1, Berlin 1893)
Im 18. Jahrhundert musste man noch zwei Wochen warten, bis man in Amsterdam den Brief bekam, den ein Freund in Venedig abgeschickt hatte. Heute besitzen vier von zehn Deutschen ein Smartphone und stehen nahezu ständig mit der ganzen Welt in Verbindung. Nach einer Untersuchung unter Studenten der Universität Bonn benutzen diese ihr Smartphone 135 Mal am Tag („Zündfunk Generator“, Bayern 2: „Warum wir das Kommunizieren neu lernen müssen“ von Oliver Buschek vom 22. Mai 2016).
Die freiwillige Diktatur
Es scheint, als wollten wir in einer Dauerkommunikation mit Welt stehen. Harald Welzer, Sozialpsychologe, Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg, Direktor von Futurzwei — Stiftung Zukunftsfähigkeit und Kritiker der Digitalisierung unseres Lebens, stellte am 17. Mai sein neues Buch „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main vor. Er beschreibt darin, wie wir unsere Freiheit mit sinnlosen Apps aufgeben und mit sogenannten sozialen Netzwerken, die alles über uns wissen, und was mit diesen Daten schlimmstenfalls passieren kann. Es sei eine freiwillige Diktatur, der wir uns unterwerfen. Laut Welzer steuern wir auf einen Totalitarismus zu, weil und in dem das Private verschwindet. Zum ersten Mal in der Geschichte hätten wir einen Zustand erreicht, in dem wir uns selbst versklavten: „Statt die Chance der Freiheit zu nutzen, die historisch hart und bitter erkämpft wurde, werden wir zu Konsum-Zombies, die sich alle Selbstbestimmung durch eine machtbesessene Industrie abnehmen lässt, deren Lieblingswort ‚smart‘ ist“, schreibt sein Verlag. Eine smarte Diktatur eben!In der Tat lässt sich an der Ersetzung von „klug“ durch das Wörtchen „smart“ herauslesen, wie sich unsere Gesellschaft verändert. Hinter dessen Bedeutung stecke mehr als nur „klug“, nämlich Gewieftheit bis zu Gerissenheit. Das neue Wörtchen wird so gut wie ausschließlich für das kluge, also das gewiefte bis gerissene Verhalten in digitalen Belangen verwendet, etwa mit Smartphones. Gewieft bis gerissen sind jedoch nur die Macher der Apps. Sie hielten uns laut Welzer in einer totalitären „Transparenzhölle“, die dazu führe, dass die Demokratie vor die Hunde geht.
Emotionale Defizite, durch Konsum kompensiert
Früher mussten Geheimdienste mühsam ihre Daten erheben und brauchten dazu einen ganzen Apparat, um uns ausspionieren zu können, heute liefern wir ihnen als Konsumenten die Daten freiwillig. Dies sei eine völlig neue Ära in der Geschichte der Überwachung. Welzer bringt das Beispiel eines jüdischen Widerstandskämpfers und Passfälschers im Untergrund der Nazi-Diktatur, der heute keine Chance mehr hätte, unbehelligt agieren zu können. Woher soll Widerstand kommen, wenn unser Privatleben völlig verschwindet und soziale Nischen taghell ausgeleuchtet werden? Was, wenn man schief angeguckt wird, wenn man über kein mobiles Kommunikationsgerät verfügt oder nicht in Netzwerken unterwegs ist? So jemand fällt auf! Laut Welzer scheine Freiheit inzwischen etwas zu sein, was nicht von allen Menschen gewünscht wird. Die Bevormundung, alle Entscheidungen abgenommen zu bekommen, wird von vielen als attraktiv empfunden. In unserer „smarten“ schönen, neuen Hightech-Welt kompensierten wir „emotionale Defizite durch Hyperkonsum und Selbstverdummungsprogramme“ (Welzer).Zudem verbreite sich Gewalt gnadenlos vom virtuellen ins reale Leben, was sich in den sogenannten sozialen Netzwerken schon beobachten lässt. Aber auch die Gewalt in Form der Ausbeutung von Mensch und Natur nimmt völlig neue Ausmaße an. Der Kapitalismus sei „räuberischer, desintegrativer, zerstörerischer denn je“. Er schöpfe keine Werte, sondern Gewalt, mit fatalen Folgen für die Menschen und die Natur in der Dritten Welt. Währenddessen gehe der „Hyperkonsum“ bei uns ungebremst weiter. Zum Beispiel bei Kleidung. Laut einer Greenpeace-Studie von 2015 behandeln wir unsere Kleidung als Wegwerfware, die „nicht mehr lange halten, sondern vor allem den schnell wechselnden Trends folgen“ muss.
Demokratie und Kapitalismus nicht mehr vereinbar
Die globale Finanzkrise habe zudem zu einer Umverteilung gesorgt — von unten nach oben, als die Verluste der Banken „vergesellschaftet“ wurden. Die Macht akkumuliere sich jenseits staatlicher Überwachung und „wächst ebenso wie die Ungleichheit“. Deshalb, so Welzer, seien Demokratie und Kapitalismus nicht mehr vereinbar! Ein Hauptproblem sei die Straflosigkeit, wenn international aufgestellte Unternehmen in der Dritten Welt ihre wirtschaftliche Macht etablierten und Mensch und Natur ausbeuten — etwa in der Textilindustrie!
Doch Harald Welzer nennt auch Namen. So etwa die von Jeff Bezos, Chef von Amazon und inzwischen auch Besitzer der US-Traditionszeitung Washington Post, Eric Schmidt und Jared Cohen, früher Google, Travis Kalanick von Uber und Oliver Samwer von Zalando, die er als „smarte Diktatoren“ bezeichnet. Zu allem Überfluss veröffentlichten sie ihre dubiosen Geschäftspraktiken und totalitären Fantasien auch noch in bekannten Verlagen. Es sage also niemand, er hätte von nichts gewusst!
In sieben Kapiteln setzt sich Welzer, Autor beispielsweise auch von „Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ (Frankfurt am Main 2013), in „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ damit auseinander, wie pervertiert unsere Welt und damit unser Leben ist. Ein Buch, das schlechte Laune erzeuge, „weil es überzeugt“, wie Richard Harnisch, selbst Geoökologe und Wissenschaftler am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung IÖW, in einer Gast-Rezension in der Frankfurter Rundschau vom 7./8. Mai 2016 schreibt. Nach dem Ende seiner Buchvorstellung waren einige Besucher/-innen der (ausgebuchten!) Veranstaltung tatsächlich bereit, der anfangs gestellten Einladung, seine Smartphones in bereitgestellte Jutebeutel zu entsorgen, Folge zu leisten! Und die im Titel dieses Beitrags genannte, ebenso am Anfang gestellte Frage möge nun jede(r) für sich beantworten.
Weiterere Verweise zum Thema
- Interview mit Harald Welzer in Die Wochenzeitung WOZ: „Wir kreisen doch nur um den Gegenwartspunkt“ vom 18. Juli 2013
- NDR-„extra 3: Der Irrsinn der Woche“: „Realer Irrsinn: Boden-Ampeln für Smombies“ vom 18. Mai 2016 (Wer kennt sie nicht, die Smombies: eine Wort-Zusammenfassung von Smartphone und Zombies; Video: 2 Minuten, 22 Sekunden)
- Michael Söldner, PC-WELT: „Levi’s & Google entwickeln smarte Jacke“ vom 24. Mai 2016. Man denke weiter an das von Apple und Google entwickelte selbst fahrende Auto, um sich unsere ach so smarte Zukunft vorzustellen!
Siehe hier beispielsweise auch:
„Privat“, „Einsamkeit und Alleinsein“, „Abhörskandal, war da was?“, „Auf dem Weg zum Überwachungsstaat“, „Kaffee aus Togo“, hier besonders die Aktualisierung vom 27. Januar 2016, „Tödliche Selfies“ und „Cristiano Ronaldo und Karl-Gerhard Eick“!
Interessant in der Rede von Harald Welzer finde ich, dass er sagt, mit fünfzehn Jahren Dinge schon so empfunden zu haben, wie sie sich später als wahr herausstellen würden. Genau dasselbe stelle ich auch an mir fest: Mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahren habe ich die Welt auch als völlig kommerzialisiert und kapitalisiert empfunden. Später verlor sich dieses Gefühl weitgehend.
Aber seit ein paar Jahren durchschaue ich das ganze System mehr und mehr, noch zumal ich wesentlich mehr politische Literatur lese als in früheren Zeiten. Und – es ist alles schlimmer, als es einem lieb sein könnte, es ist schlimmer, als Marx und Engels es sich in ihren übelsten Albträumen jemals hätten ausmalen können. Die globale Ausbeutung von Ressourcen, Tieren und Menschen durch Großkonzerne und Banken ist unvorstellbar.
Gut, dass es solche Menschen wie Herrn Welzer gibt, die die Dinge endlich mal beim Namen nennen. Und auch politische Kabarettisten wie Volker Pispers oder Hagen Rether nennen die Dinge beim Namen. Aber es ist wie ein Reden gegen Wände. Die Verlockungen der „smarten“ Technik und „sozialen“ Netzwerke ist einfach zu groß. Die Massen wollen gar nicht aufwachen.
Genau das Letztere sagt Welzer in anderen Worten auch: Es scheint, als ob wir die Freiheit gar nicht mehr wollten und stattdessen lieber die (Kauf)entscheidungen abgenommen bekommen!
Obwohl wir mit der ganzen Welt in Verbindung stünden, werde unser Horizont immer kleiner! Welzer spricht hier von „Ich-Bubbles“. Und je größer die Distanz zu sich selbst werde, desto größer werde die Distanz zu den Mitmenschen und zum eigentlichen Weltgeschehen: Man sei bequem geworden — und ferngesteuert! Weshalb auch der Klimawandel kaum jemanden interessiere, weil die Folgen als weit weg von uns wahrgenommen werden würden. Wir hätten uns von unseren sozialen und biologischen Wurzeln entfernt. Nach uns die Sintflut, in eigenen Worten.
Welzer, der durchaus auch bissig sein kann, bezeichnet denn auch dieses Erdzeitalter, von vielen schon „Anthropozän“ genannt, das Zeitalter des Menschen, als „Knetozän“, das Zeitalter des Geldes, der Knete. Was Marx und Engels nicht voraussehen konnten, war diese unglaubliche Akkumulation des Reichtums auf wenige Personen: Welzer spricht von genau 80, die genauso viel Geld hätten wie 3,5 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung!
Aber er sieht auch Hoffnung: So begeisterte ihn die Welle des zivilgesellschaftlichen Engagements gegenüber den ankommenden Flüchtlingen im Sommer 2015. Und tröstlich war auch während der Buchvorstellung, dass sich bei einer anfänglichen Zählung, wer denn ein Smartphone besitzt, nur wenige der (allerdings meist älteren) Teilnehmenden dazu bekannten, und dass einige von ihnen am Ende tatsächlich bereit gewesen wären, ihres zu entsorgen, hätte es diese Möglichkeit gegeben!
Es ist wirklich wahr, wie wir unser Leben mit dem Gebrauch von sinnlosen Apps vergeuden, und es gibt immer mehr davon! Diese ganzen IT-Firmen mit ihren App-Programmieren werden nur deshalb so reich, weil es immer Dumme gibt, die sie nutzen werden, und seien sie noch so überflüssig. Dieser Last Psychiatrist im empfohlenen Beitrag Einsamkeit und Alleinsein hat recht mit: Wenn du all deine Energie in Facebook steckst, kannst du sie nicht in Dinge stecken, die tatsächlich funktionieren könnten, und das gilt nicht nur für Facebook!
Dazu ist gerade ein interessanter Beitrag in Form eines Erfahrungsberichts bei XING erschienen: „Die Fernbedienung des Lebens, mein Smartphone“. Sehr lesenswert!
Pingback:Offline gehen! – Setzfehler