Frühlingstraum
von Wilhelm Müller
Ich träumte von bunten Blumen,
So wie sie wohl blühen im Mai,
Ich träumte von grünen Wiesen,
Von lustigem Vogelgeschrei.
Und als die Hähne krähten,
Da ward mein Auge wach;
Da war es kalt und finster,
Es schrieen die Raben vom Dach.
Doch an den Fensterscheiben
Wer mahlte die Blätter da?
Ihr lacht wohl über den Träumer,
Der Blumen im Winter sah?
Ich träumte von Lieb’ um Liebe,
Von einer schönen Maid,
Von Herzen und von Küssen,
Von Wonn’ und Seligkeit.
Und als die Hähne krähten,
Da ward mein Herze wach;
Nun sitz’ ich hier alleine
Und denke dem Traume nach.
Die Augen schließ’ ich wieder,
Noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster?
Wann halt’ ich dich, Liebchen, im Arm?
(aus Wilhem Müller: Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Band 2, S. 75–108: Die Winterreise, Dessau 1824.)
Frühlingstraum: Interpretationen
Wikipedia schreibt in einer Interpretation des Textes von „Frühlingstraum“:
Das lyrische Ich wird brutal aus einem schönen Frühlingstraum gerissen und sucht aus der Realität den Weg zurück in seinen Traum (Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah?). Wieder zurück in der Erinnerung an den Traum erinnert sich das lyrische Ich an die Nähe seiner Geliebten. Das lyrische Ich ist unfähig, die Erinnerung an die Vergangenheit zu verdrängen, und sehnt sich zurück in den Frühling (Wann grünt ihr Blätter am Fenster? Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?).
Wobei ich hier interpretieren würde, dass sich das lyrische Ich nicht in den Frühling, sondern in den Traum zurücksehnt – was ich gut nachvollziehen kann!
Egbert Hiller interpretiert das Gedicht in „Eine Lange Nacht der ‚fernen Geleibten‘ – Traumhaft schön“ im Deutschlandfunk bzw. Deutschlandfunk Kultur vom 23. Dezember 2017:
Markant ausgeprägt ist das Spannungsverhältnis zwischen „Welt und Gegenwelt“, zwischen Traum und Wirklichkeit, das sich im elften Lied, „Frühlingstraum“, jäh zuspitzt. Grausames Erwachen reißt das lyrische Subjekt aus idyllischen Traumgefilden. Und dieser Stimmungsumschwung zeichnet sich in der Musik eindringlich ab. Nach diesen Einbrüchen der Realität, die selbst albtraumhafte Züge tragen, kann nichts mehr so sein wie vorher – das Traumbild von der Geliebten, von der „schönen Maid“ und der mit ihr verbundenen Seligkeit, zerplatzt, die Illusion ist zerstört, die „heile Welt“ unwiederbringlich verloren.
Müllers Frühlingstraum und Franz Schubert
Wilhelm Müllers Gedichte aus diesem Abschnitt nutzte der Komponist Franz Schubert für seinen Liederzyklus „Winterreise“, der vollständig „Winterreise. Ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte komponiert von Franz Schubert. Op. 89. Erste Abtheilung (Lied I–XII). Februar 1827. Zweite Abtheilung (Lied XIII–XXIV). October 1827“ heißt. Hier zwei Versionen des wohl schönsten Liedes aus diesem Liederzyklus, eine klassische und eine überraschende:
- YouTube: Frühlingstraum aus Schuberts Winterreise (vermutlich Christoph Prégardien: Tenor, Andreas Staier: Hammerflügel)
- YouTube: Frühlingstraum – Hannes Wader singt Schubert (Hannes Wader: Gesang, Ralf Illenberger: Gitarre)
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