Arbeitslose häufig psychisch krank
Eine Langzeitstudie über psychische Folgen von Arbeitslosigkeit
Eine Langzeitstudie der Universität Erlangen-Nürnberg erforscht die Auswirkungen von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit auf die körperliche und psychische Gesundheit. Erste Ergebnisse der Studie, an der der Autor übrigens auch teilgenommen hat, zeigen, dass Arbeitslose häufig psychisch krank sind – und das häufig auch noch dann, wenn sie wieder ins Erwerbsleben kommen!
Viele Menschen machen in ihrem Leben mindestens einmal die Erfahrung von Erwerbslosigkeit. Und vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Arbeitswelt ist davon auszugehen, dass zukünftig immer mehr Menschen davon betroffen sein werden. Doch wie wirkt sich Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit aus?
Das Forschungsprojekt Arbeitslosigkeit
PD Dr. Karsten Paul und Andrea Zechmann, M. Sc., vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften des Lehrstuhls für Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben in der „Nürnberger Langzeitstudie zur Lebenssituation von Menschen mit Arbeitslosigkeitserfahrung“ die Gründe für das psychische Leiden von Menschen während ihrer Erwerbslosigkeit untersucht. Mehr als eintausend Teilnehmer wurden über einen Zeitraum von bis zu mehreren Jahren in verschiedenen Abständen mittels mehrseitiger Fragebögen zu ihrer Lebenssituation befragt.
Untersucht wurden die Einflüsse der „manifesten Funktionen“ (die finanzielle Situation: der „Gelderwerb“, Seite 8) und die damit einhergehenden Probleme sowie die der „latenten Funktionen“, also Aspekte wie „Zeitstruktur, Aktivität, Sozialkontakt, Status und Identität, und ein sinnvoller Beitrag zur Gesellschaft (sog. kollektive Ziele)“ (Seite 9) „sowie Kompetenz“ (Seite 17). Auch das Freizeitverhalten Arbeitsloser und dessen Beitrag zur Gesundheit fand Berücksichtigung.
Arbeitslose häufig psychisch krank
Erste Ergebnisse der Studie in Form einer 20-seitigen Broschüre liegen inzwischen auch dem Autor dieses Beitrags vor, der im Übrigen selbst daran teilgenommen hatte. Dabei zeigte sich, dass Arbeitslose im Durchschnitt eine deutlich schlechtere psychische Gesundheit aufweisen als Erwerbstätige. Es stellt sich also heraus, dass der Erwerbsstatus einen Einfluss auf die psychische Gesundheit ausübt. Zu den negativen Auswirkungen „gehören unter anderem ein schlechtes Selbstwertgefühl, Niedergeschlagenheit, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie Traurigkeit und depressive Stimmung“ (Seite 6).Die Analyse zeigte zudem, dass die eingeschränkte seelische Gesundheit, die oft mit Arbeitslosigkeit einhergehe, tatsächlich größtenteils auch durch diese verursacht werde. Es gäbe sogar Hinweise darauf, dass eine einmal gemachte Arbeitslosigkeitserfahrung längerfristige Auswirkungen haben könne, selbst wenn die ehemals Arbeitslosen wieder im Erwerbsleben stünden!
Zwar zeige sich, dass mit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bei den meisten Befragten eine deutliche Verbesserung der seelischen Gesundheit einhergehe – und das umso stärker, je länger die Wiederbeschäftigung anhielt –, dass aber bei den Befragten mit einem späteren Zeitpunkt des Wiedereintretens ins Berufsleben die „Verläufe der latenten Funktionen weniger eindeutig“ seien (Seite 12). Auch die Verbesserung materieller Probleme verliefe bei diesen Personen „etwas unruhiger“ (Seite 11).
Werte und Lebensziele stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein
Zu den Gründen, die den negativen Effekt der Arbeitslosigkeit befördern, gehören unter anderem, dass neben finanziellen Problemen (manifeste Funktionen) der Mangel an Zeitstruktur, Sozialkontakt, Status, Aktivität und dem Gefühl, nützlich für andere zu sein (latente Funktionen), entscheidend seien. Letztere arbeitsbezogene Werte und Lebensziele seien für Arbeitslose von großer Bedeutung; diese passten aber typischerweise nicht zu ihrer aktuellen Lebenssituation, was einen negativen Einfluss auf das psychische Befinden ausübe.
Es stellte sich heraus,
dass arbeitslose Personen mehr finanzielle Probleme, eine geringere Zeitstruktur und weniger Sozialkontakte hatten als erwerbstätige Teilnehmende. Darüber hinaus empfanden sie einen geringeren sozialen Status und hatten seltener das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Zudem fühlten sich arbeitslose Menschen weniger kompetent als erwerbstätige Menschen.
(Seite 10, im Original kursive Auszeichnung hier fett)
Arbeitslose in der Freizeit weniger aktiv
Für die Untersuchung der Freizeitgestaltung wurden die Teilnehmenden in jedem Fragebogen zu ihren Aktivitäten befragt, wobei nach vier Oberbegriffen unterschieden wurde (Seite 14):
- Vergnügen (z. B. Besuch von Kino, Discos)
- Sport
- Pflege sozialer Kontakte (z. B. Geselligkeit mit Freunden oder Nachbarschaftshilfe)
- Leben von Werten (z. B. in Form ehrenamtlicher Tätigkeiten oder durch religiöse Aktivitäten)
Zwar übten „sowohl arbeitslose als auch erwerbstätige Menschen am häufigsten soziale oder sportliche Aktivitäten“ aus (Seite 14), doch fand diese Ausübung bei Erwerbstätigen häufiger statt als bei Arbeitslosen. Zudem zeige sich unter den Arbeitslosen „ein problematisches Muster“:
Je länger Personen arbeitslos waren, desto seltener gingen sie sozialen Aktivitäten nach. Dies könne darauf hinweisen, dass die soziale Einbindung von Menschen, deren Arbeitslosigkeit bereits länger andauert, allmählich abnimmt. Dies wäre aus psychologischer Sicht sehr bedenklich, da soziale Unterstützung den negativen Aspekt von psychischer Belastung abfedern kann.
(Seite 14, im Original kursive Auszeichnung hier fett)
Dies gelte auch für sportliche Aktivitäten, da „Sport nicht nur die körperliche Gesundheit fördert, sondern […] auch die psychische Belastung reduziert“ (Seite 15). Aufgrund eingeschränkter finanzieller Mittel sei es Arbeitslosen jedoch häufig nicht möglich, sich kostenintensive Vergnügungen wie Kinos oder Discos oder Beiträge zu Sportvereinen leisten zu können.
Schlechte körperliche Gesundheit: ein Hemmnis für die Wiederbeschäftigung
Neben den psychischen Auswirkungen von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit wurden auch Fragen zur körperlichen Gesundheit ausgewertet. Hierbei zeigte sich, dass eine schlechte körperliche Verfassung ein Hemmnis für eine erfolgreiche Rückkehr ins Erwerbsleben ist. Allerdings sei es auch so, dass die Arbeitslosigkeit an sich „einen deutlichen Einfluss […] auf die selbsteingeschätzte [sic!] körperliche Gesundheit“ hat (Seite 16). Kurz gesagt: Wer auch körperlich gesund sei, findet eher eine Stelle, Arbeitslosigkeit wiederum trage aber zu „ungesundem“ Verhalten bei!
Arbeitslosigkeit wirkt sich „nachteilig auf die auf die körperliche Gesundheit aus, weil die latenten Funktionen beeinträchtigt sind. Verbessern sich die latenten Funktionen durch eine Wiederbeschäftigung, so verbessert sich die körperliche Gesundheit nicht nur deshalb, weil man sich ganz allgemein besser fühlt, wenn die Bedürfnisse nach Sozialkontakt, Status usw. erfüllt werden […]“. Sondern das allgemein gute Befinden „färbt“ auch auf die Einschätzung des körperlichen Befindens ab. Es gäbe also „einen von der psychischen Befindlichkeit völlig unabhängigen Einfluss der latenten Funktionen auf die körperliche Gesundheit“ (alle Seite 17).
Fazit
„Arbeitslosigkeit [hat] für Menschen weitreichende Folgen.“ Sie trage dazu bei, dass Arbeitslose häufig psychisch krank seien. Neben der (fehlenden) Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten (manifeste Funktion), fehlten die Erfüllung psychologischer Bedürfnisse (latente Funktionen). Zudem könne bestätigt werden,
dass arbeitslose Menschen mehr finanzielle Probleme und weniger Zugang zu latenten Funktionen haben als Erwerbstätige und dass dieser Mangel an manifesten und latenten Funktionen eine Ursache für psychisches und physisches Leiden ist.
(Seite 17)
Je länger die Arbeitslosigkeit andauere, desto mehr nähmen soziale, sportliche oder vergnügliche Aktivitäten ab, obwohl gerade deren psychisch stabilisierende Wirkung wichtig für die Reduzierung seelischer Belastung sei!
Anregungen für Betroffene und Interventionsträger
Als Handlungsanregungen für die Betroffenen werden abschließend alle Tätigkeiten aufgeführt, die darauf hinauslaufen, dass „sie nicht alleine stattfinden“, wobei bei sportlichen Aktivitäten besonders wichtig sei, dass sie regelmäßig ausgeübt werden. Insbesondere bei längerer Arbeitslosigkeit fielen „die günstigen Effekte von Sport bzw. körperlicher Aktivität {…] noch stärker aus als bei kurzer Arbeitslosigkeit“ (Seite 18).
Für die „Konzeption von Interventionsmaßnahmen“ entsprechender Organisationen wird hauptsächlich angeregt, dass sie helfen sollen, den Mangel an latenten Funktionen auszugleichen. Und hierbei besonders die Zeitstruktur. Ein kurzer „Crashkurs“ sei in dieser Hinsicht weniger geeignet als Maßnahmen, „die sich über mehrere Tage oder Wochen verteilen und helfen, diese Tage bzw. Wochen zeitlich zu strukturieren“ (Seite 19). Wichtig seien auch Möglichkeiten zur Interaktion der Teilnehmer, die Identifizierung mit der Maßnahme und das Gefühl, dass diese sinnvoll ist und nicht nur der Beschäftigung dient.
Gerade auch die sogenannten Ein-Euro-Jobs seien in dieser Hinsicht durchaus hilfreich, weil sie, obwohl heftig umstritten, „häufig gemeinnützige und im öffentlichen Interesse liegende Projekte beinhalten“! Wichtig sei zudem, „es arbeitslosen Menschen zu ermöglichen, ihre Kompetenzen zu zeigen und weiterzuentwickeln, um schließlich Erfolgserlebnisse zu haben“ (alle Seite 19).
Ausblick auf geplante Arbeiten
Da es sich herausgestellt habe, „dass für viele der Befragten wahrgenommene Ungerechtigkeit, die sie während ihrer Arbeitslosigkeit allgemein oder im Umgang mit Behörden erleben, eine große Rolle spielt“, weil sie „die psychische Gesundheit beeinflusst“ (Seite 20), soll dieser Aspekt im Jahr 2018 näher untersucht werden.
Zudem werde „Arbeitslosigkeit als kritisches Lebensereignis verstanden, das zu einer Veränderung der Lebenssituation führt und die Betroffenen psychisch belastet“ (Seite 20). Diese kritische Lebenssituation sorge nicht nur dafür, dass Arbeitslose häufig psychisch krank seien, sondern auch dafür, „dass sich weitere kritische Lebensereignisse erst aus der Situation der Arbeitslosigkeit ergeben“ (Seite 20). Auch hierüber soll zukünftig berichtet werden.
Weitere Verweise
- Siehe hier auch weitere Beiträge unter dem Schlagwort „arbeitslos“, insbesondere
- Zwangsverrentung von Arbeitslosen: nein danke!
- Was tun?
- Soziokulturelles Leben mit Arbeitslosengeld II
- Einsamkeit und Alleinsein
Pingback:„Hartz IV-Hammer“? – Ronalds Notizen