Was tun?
Über Sinn und Wandel menschlicher Arbeit
Man hat Arbeit oder man hat keine. Die Ausstellung „Was tun? Über den Sinn menschlicher Arbeit“ zeigte, dass sich unsere Arbeitswelt in den letzten Jahren rasant verändert hat und noch verändern wird. Das bedeutet auch, dass wir unser Verständnis von Arbeit überdenken müssen.
Dein Leben war Arbeit.
(Grabsteininschrift auf einem Berliner Friedhof, gezeigt in der Ausstellung)
Wenn das Leben köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.
(Grabsteininschrift nach Psalm 90.10, gefunden bei Volker Hamp)
Man hat Arbeit oder man hat keine. Im ersteren Fall oft zu viel, oft auch schlecht bezahlt, sodass man davon nicht leben kann. Und Arbeitslosigkeit kann ganz schnell jede(n) treffen. „Was tun? Über den Sinn menschlicher Arbeit“, eine Ausstellung im Frankfurter Senckenberg-Naturmuseum, zeigte, dass sich unsere Arbeitswelt in den letzten Jahren rasant verändert hat. Und dass diese Veränderungen noch längst nicht abgeschlossen sind!
Zahlen und Fakten
Zunächst einige Zahlen und Fakten aus der vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden konzipierten und in Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum gezeigten Ausstellung.
Die Anzahl der Erwerbstätigen lag 2011 so hoch wie nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Damit hat sich auch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden erhöht, so seit 2009 um 4 Prozent. Doch unsere Jahresarbeitszeit sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich, was man sich als Vollbeschäftigte(r), die/der bis in die Abendstunden und am Wochenende arbeitet, kaum vorzustellen vermag. Diese Entwicklung ist auf den steigenden Anteil von Teilzeit- und Kurzarbeit sowie von 400-(Mini-) oder 1-Euro-Jobs zurückzuführen (Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB). Auch die Anzahl der geleisteten Überstunden pro Woche sinkt beständig: von 3 Stunden 17 Minuten im Jahr 1970 bis auf nur noch 56 Minuten 2011 (Quelle: Statistisches Bundesamt). Da wir insgesamt gesehen mehr Freizeit haben und haben werden, steigt die Zahl der Beschäftigten in der sogenannten „Freizeitindustrie“.
Wer als Vollbeschäftigte(r) glaubt, dass sie/er für seine gestiegene Arbeitsleistung auch besser entlohnt wird oder die Gehälter an die Inflationsrate angepasst wurden, wird zumindest hierzulande seit Langem enttäuscht. Die Lohn- und Gehaltsentwicklungen einiger ausgewählter Länder von 2000 bis 2009: Norwegen +25,1 %, Republik Korea +18,3 %, Großbritannien +14,0 %, Dänemark +10,7 %, Schweiz +9,3 %, Frankreich +8,6 %, Japan +1,8 %, Deutschland −4,5 % (Quelle: International Labor Organization ILO: Global Wage Database).
Leider nicht verifizieren konnte der Autor die in der Ausstellung „Was tun?“ genannten Zahlen des Statistischen Bundesamts zu den Konsumausgaben, nach denen die Ausgaben für Haustiere (!) stiegen, die für Nahrungsmittel, Verkehr und Freizeit seit 2007 zurückgingen.
Die Zahl der Krankmeldungen in Tagen sinkt seit Jahren. Demgegenüber hat sich die Zahl derer aufgrund psychischer Störungen aber in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt, was nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass sich die Diagnosemöglichkeiten verbessert haben und es kein Tabu mehr ist, sich eine psychische Störung einzugestehen. Für viele Beschäftigte ist der Leistungs- und Zeitdruck am Arbeitsplatz nicht mehr auszuhalten.
Die Einkommensentwicklung und die Beschäftigungsquote sind unter Personen mit Hochschulabschluss am besten. Doch laut PISA-Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD fällt es in kaum einem von PISA erfassten Land schwerer, seinen gesellschaftlichen Status zu verlassen, als in Deutschland.
Was tun also?
Die Zukunft der Arbeit
Experten prognostizieren einen Arbeitskräftemangel in 20 Jahren. Besonders Fachkräfte sind schon heute gesucht. Wir werden uns weiter in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln, die Zahl der Beschäftigten in der Industrie wird sich nur noch leicht steigern, die derer in der Landwirtschaft sogar ab- und Altersarbeit zunehmen (Quellen: Prognos, Eurostat, OECD). Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse werden zunehmend durch befristete ersetzt werden, was für viele schon heute die Regel ist. Dies führt zu einer Infragestellung der eigenen Lebensentwürfe, denn die gesellschaftliche Anerkennung durch einen lebenslang ausgeübten Beruf wird nicht mehr aufrechtzuerhalten sein.
Arbeit versus Erwerbsarbeit
Bisher haben wir hier nur von „Arbeit“ im Sinn von „Erwerbsarbeit“ gesprochen. Das heißt: von einer Leistung gegen ein Entgelt, das den Lebensunterhalt sichern soll, und die für die meisten Menschen den Mittelpunkt des Lebens darstellt (siehe auch den Begriff „Arbeit“ im Wiki-Wörterbuch Wiktionary und die Begriffserklärungsseite „Arbeit“ in der freien Enzyklopädie Wikipedia). Und die einzige Form von Arbeit, die gesellschaftliche Würdigung erfährt! Doch wie verhält es sich mit Familien- und Hausarbeit oder ehrenamtlicher Tätigkeit? Oder anders gefragt: Warum bleibt solch notwendigen Arbeiten die gesellschaftliche Anerkennung versagt?
Familien- und Hausarbeit
Familien- und Hausarbeit gehorcht nicht den Regeln der Erwerbsarbeit, weil sie als nicht produktiv gilt und nicht entlohnt wird. Damit erfährt sie zwar keine gesellschaftliche Anerkennung, aber wenigstens eine persönliche Bestätigung im familiären Bereich. Dem vielfach geäußerten Ruf nach einer Entlohnung halten Kritiker/-innen jedoch entgegen, dass familiäre Beziehungen einer wirtschaftlichen Denkweise unterzogen werden würden.
Ehrenamt
Während Familien- und Hausarbeit keine gesellschaftliche Anerkennung erfährt, so verhält es sich mit ehrenamtlichen Tätigkeiten etwas anders. Sie bieten vielen (auch arbeitslosen) Menschen die Möglichkeit, „etwas Sinnvolles“ zu tun, weshalb sie mit einem hohen persönlichen Mehrwert verbunden sind. Kritiker/-innen des Ehrenamts bemängeln jedoch, dass wegen der hauptsächlichen Ausübung im sozialen Bereich der Staat sich aus seiner ihm ursprünglich angestammten sozialen Verantwortung entlässt und die dafür vorgesehenen Gelder anderen Zwecken wie etwa der Rüstung widmen kann. Zudem entsteht eine Situation, in der zwar auf der einen Seite Millionen Menschen ohne Arbeit sind, auf der anderen Seite aber Ehrenamtliche diesen die Arbeit wegnehmen. Und zwar freiwillig und unbezahlt! Schließlich bleibt festzuhalten, dass ganze Bereiche wie das Gesundheits- und Sozialwesen ohne Ehrenamtliche nicht mehr funktionieren würden.
Der Wunsch nach Anerkennung
Der Wunsch nach Anerkennung ist eine wichtige Triebfeder menschlichen Tuns, der sich schon in frühester Kindheit in uns entwickelt. Die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz hängt oft damit zusammen, dass dort nicht genügend Anerkennung erfahren wird, auch in finanzieller Hinsicht. Die Unzufriedenheit in der Arbeitslosigkeit damit, dass keine Anerkennung mehr erfahren wird. In unserer von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Gesellschaft zählt ein Mensch nur, wenn er von einem gesellschaftlichen Nutzen ist. Und der bedeutet nun einmal, eine Arbeit im Sinn einer „Erwerbsarbeit“ zu haben und mit ihr und durch sie den allgemeinen Wohlstand zu mehren, also produktiv zu sein.
Autorität
Während der Arbeit kann man sich beweisen. Sich in einer Sache gut auszukennen, gebraucht und für seine Leistung bewundert zu werden, Macht und Autorität auszustrahlen, kann eine ähnlich starke Faszination ausüben wie der Wunsch nach Anerkennung. Doch wenn Berufe nur nach ihrem gesellschaftlichen Ansehen und dem Wunsch nach Autorität ausgewählt werden und nicht nach Interessen und Neigungen, ist der Arbeitsplatz kein Ort der persönlichen Entwicklung mehr, sondern nur noch einer der Autorität.
Solidargemeinschaft und Konkurrenzkampf
Eine Gesellschaft ist auch eine Solidargemeinschaft, in der über Sozialversicherungen und den „Generationenvertrag“ der Wohlstand gleichmäßig geteilt und sich um Menschen gekümmert werden sollte, die aus unterschiedlichen Gründen auf Unterstützung angewiesen sind. Doch da unser Kranken-, Renten- und Sozialversicherungssystem in einer Zeit entstand, in der vom Modell einer lebenslangen Erwerbsarbeit ausgegangen worden ist, das schon heute nicht mehr gültig ist, bedroht die sogenannte „Prekarisierung“ weiter Teile der Bevölkerung die Solidargemeinschaft.
Allenfalls in einigen der in der Ausstellung „Was tun?“ gezeigten Interviews wurde erwähnt, dass der Konkurrenzkampf unter der Arbeitnehmerschaft, resultierend aus der Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes, zugenommen hat und noch zunehmen wird. Die Finanzkrise, die Globalisierung und die Auslagerung von Arbeitsplätzen in „billigere“ Länder, die immer noch hohen Arbeitslosenzahlen und steigende Leiharbeit verschärfen die Lage. Dies führt ebenfalls dazu, dass die Solidargemeinschaft bröckelt. Aber auch dazu, dass die Existenzangst paradoxerweise besonders unter den Besserverdienenden steigt und nicht etwa bei denen, die bereits unter prekären Verhältnissen leben (siehe hier auch „Soziales Klima immer eisiger“)!
Die arbeitslose Existenz
Arbeit im Sinn von „Erwerbsarbeit“ ist ungleich verteilt. Viele arbeiten, ob freiwillig oder gezwungen, länger als gesetzlich vorgeschrieben, viele unfreiwillig kürzer oder gar nicht. Die Erwerbsarbeit ist gespalten in „gute“ und „schlechte“ Arbeit, unsere Gesellschaft in Hoch- und Minderlöhner. Oft gilt: „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!“
Vom Nutzen der Arbeitslosen
Die arbeitslose Existenz wird von Amts wegen unter Verhältnissen vorgeführt, mit denen niemand tauschen möchte:
Der arbeitsethische Gebrauchswert der Arbeitslosen besteht darin, dass es sie gibt, dass sie gar nicht umhin können, zu Mitwirkenden einer großen gesellschaftlichen Inszenierung zu werden, deren kathartischer Effekt in der sozialen Abschreckung besteht: lieber miserable Arbeit als solch soziales Siechtum!
(Wolfgang Engler: „Die Entmündigung des Bürgers“, Berliner Zeitung vom 19. Februar 2005, hier die archivierte Version vom 13. März 2016).
Tätigkeiten, die nicht dazu dienen, den gesellschaftlichen Wohlstand zu mehren, keinen allgemeinen Nutzen haben und nicht effizient sind, sind überflüssig oder Privatsache. Glück, Anerkennung, aber auch Autorität und gute Bezahlung sind im gebräuchlichen Sinn der Erwerbsarbeit allenfalls persönlicher Mehrwert. Und die, die ohne Arbeit dastehen, geraten in den Verdacht, parasitär, faul und an ihrer/seiner Lage selbst schuld zu sein. Allein das Ehrenamt ist noch als Arbeit und gesellschaftlich anerkannt, ohne jedoch vergütet zu sein. Damit stellt es trotz aller berechtigten Kritik ein Vorbild für Arbeit dar, dessen Anerkennung nicht dem ökonomischen Profitdenken der Erwerbsarbeit folgt und die zudem einen hohen persönlichen Sinn stiftet.
Arbeitsplätze: so gefährdet wie nie zuvor
Heute haben zwar so viele Menschen einen festen Arbeitsplatz wie nie zuvor, doch dieser ist auch so gefährdet wie nie zuvor. Nicht nur Wirtschafts-, Banken- und Finanzkrisen (die nächste wird schon prognostiziert!), auch die Globalisierung (in deren Folge schon heute Menschen weltweit mal hier, mal da beschäftigt sind), der Klimawandel und die Endlichkeit der Ressourcen (ganz zu schweigen davon, dass die Absatzmärkte irgendwann gesättigt sein werden!) machen es notwendig, dass Unternehmen flexibel auf sich ändernde Anforderungen reagieren müssen. Arbeitnehmer/-innen ebenso: Befristete, Teilzeit- und Kurzarbeit werden weiter anwachsen. Denkbar ist auch, dass die Zahl der Arbeitslosen wieder zunehmen könnte. Eine Tendenz zu mehr freier Zeit ist schon jetzt absehbar und wird sich weiter verstärken. Zudem wird es immer Menschen geben, für die unser Erwerbssystem keine Verwendung (mehr) hat. Was tun also?
Was tun? Ein Fazit
Unser Verständnis von Arbeit im Sinn von (lebenslanger) Erwerbsarbeit wird immer mehr infrage gestellt werden und irgendwann in seiner heutigen Form, in der wir von einer Leistung gegen ein Entgelt sprechen, das den Lebensunterhalt sichern soll und die den Mittelpunkt des Lebens darstellt, nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Damit begründet, bedarf unser Versicherungssystem einer dringenden Revision. Schon heute können immer mehr Ruheständler/-innen nicht mehr von ihrer Rente leben. Altersarmut breitet sich aus.
Haus-, Familien- und ehrenamtliche Arbeit stellen gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten dar, die eine neue Würdigung auch in finanzieller Hinsicht erfahren sollten. Ohne hier einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle das Wort reden zu wollen (Kritiker befürchten u. a., dass dies auf eine unfreiwillige Subvention der Unternehmerschaft hinauslaufen könnte), bedeuten diese Veränderungen dessen ungeachtet, dass neue Formen des Unterhalts und des Auskommens gefunden und der Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen aufgelöst werden müssen.
Wirtschaft und Politik bremsen
Doch die Dominanz der Wirtschaft und ihrer Interessen leitet nicht nur unser Leben, sondern schon längst auch die Politik, die dadurch entmachtet wird bzw. sich selbst entmachtet. Unsere Bedürfnisse werden von der Wirtschaft und ihrem Sprachrohr, der Werbung, bestimmt, politische Entscheidungen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. So sind zurzeit weder von der Wirtschaft noch von der Politik Lösungen im Hinblick auf eine tragfähige Zukunft der (Erwerbs-)arbeit und ihrer Entlohnung zu erwarten.
Alternative Möglichkeiten der Lebensplanung sind aber schon jetzt gefragt, die dem Leben einen Sinn geben. Was tun also? Es gilt, sich von der Arbeit zu emanzipieren!
Weitere Verweise und Literatur
- Pressemeldung des DGB zum DGB-Index Gute Arbeit zu Stress am Arbeitsplatz mit der Möglichkeit, die kompletten Ergebnisse der Repräsentativumfrage 2011 zu den Themen „Arbeitshetze — Arbeitsintensivierung — Entgrenzung“ als PDF herunterzuladen
- Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005
- Dieter Schnack, Thomas Gesterkamp: Hauptsache Arbeit? Männer zwischen Beruf und Familie, Reinbek bei Hamburg 1996
guter Bericht 🙂
Danke, leider selten gelesen! Solange man eine Arbeitsstelle hat, möchte man nicht daran erinnert werden, dass das auch anders sein kann, und wer seinen Arbeitsplatz verloren hat, hat andere Probleme.
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