Was Sie schon immer (nicht) wissen wollten (8)
Von der Spiritualität, der politischen Dimension und Sprichwörtern rund ums Essen und Trinken
Aber die deutsche Küche überhaupt — was hat sie nicht alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit […], die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloss alten Deutschen dazu, so versteht man auch die Herkunft des deutschen Geistes — aus betrübten Eingeweiden …
(aus Friedrich Nietzsche: Warum ich so klug bin, erster Abschnitt, in: Ecce homo)
Wir Deutschen sind in Europa nicht gerade bekannt dafür, viel Geld und Zeit für den Einkauf, die Zubereitung und das Genießen unserer Speisen und Getränke aufzuwenden. Dafür haben wir mit die teuersten Kücheneinrichtungen. Ein krasses Missverhältnis! Doch wussten Sie, dass es auch eine spirituelle Seite und eine politische Dimension des Essens und Trinkens gibt? Zudem verfügen wir über unendlich viele Sprichwörter und Redensarten, die sich mit dem Essen und Trinken beschäftigen. Zeit, sich darüber einige gastrosophische Gedanken zu machen — und eine Buchempfehlung auszusprechen!
In die Suppe gespuckt — unser Umgang mit Lebensmitteln und deren Zubereitung
Wie wir mit unserem Essen umgehen, kann man täglich in den Supermärkten beobachten: abgepackte, eingeschweißte Ware oder solche aus dem Kühlregal anstatt frischer, die dazu noch lieb- und achtlos in den Einkaufswagen geworfen (jawohl: geworfen und nicht gelegt!) wird; siehe hierzu „Einkaufsverhalten“. Andererseits verfügen wir über mit die teuersten Kücheneinrichtungen in Europa. Viel Geld für billiges Essen mit wenig Zeit, könnte man sagen.
Aber es gibt auch immer mehr Leute, vor allem Männer, von denen das Kochen und die dazugehörige Ausrüstung geradezu zu einem Fetischismus erhoben werden. Da dürfen es beispielsweise nur die teuersten Küchenmesser sein. Das Wort vom „Gastrosexuellen“ macht bereits die Runde.
Irgendwie krasse Missverhältnisse, finden Sie nicht auch?
Lass diesen Kelch (nicht) an mir vorübergehen — die spirituelle Seite des Essens und Trinkens
Wer sich um sein Essen kümmert, kümmert sich um sich selbst und damit nicht nur um sein körperliches, sondern auch um sein geistiges Wohlempfinden! Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen, wussten nicht nur unsere (Groß)eltern. Daher gibt es auch eine spirituelle Seite, die über die reine Nahrungs- und Getränkeaufnahme hinausreicht. Tatsächlich ist es vielen Kulturen gemein, dass das Essen und Trinken eine religiöse Komponente in sich trägt. Dabei geht es nicht nur um das Essen und Trinken an sich, sondern auch um deren Auswahl und um deren Zubereitung. Diese Spiritualität hat etwas mit der Beziehung zu Gott zu tun, die sich in der Beziehung der Menschen untereinander widerspiegelt. Nicht nur Jesus von Nazareth hat bei seiner Verkündigung immer wieder auf Bilder aus dem Bereich des Essens und Trinkens zurückgegriffen, und viele seiner Wunder, nicht nur die Speisungen der Fünf- und Viertausend, auch die Verköstigung der Hochzeit zu Kana haben damit zu tun. Und das Mahl mit seinen Gästen und Jüngern ist aus der christlichen Theologie nicht mehr wegzudenken.
Adventszeit und Weihnachten
Nun, da wir gerade in der Adventszeit sind: Wussten Sie, dass Advent bis 1917 Fastenzeit war, und zwar bis einschließlich 24. Dezember zur Mitternachtsmette? Daher kommt der auch heute noch weit verbreitete Brauch, an diesem Tag nur leichtes Essen zu sich zu nehmen. Erst später ist aus dem eigentlichen „Vorbereitungstag“ der eigentliche Festtag geworden.
Ältere werden sich erinnern, dass früher Äpfel am Weihnachts- oder Christbaum hingen, die heute durch die Kugeln symbolisiert werden. Sie sollen an den Baum im Paradies erinnern und daran, dass uns mit der Geburt Jesu die Tür zum Paradies wieder geöffnet wurde. Und der Dresdner Christstollen, ein Weihnachtsbrot (nicht -kuchen!), erinnert nicht ohne Grund an ein bestimmtes Kleinkind in Tüchern.
Die Suppe auslöffeln müssen — Sprichwörter und Redensarten rund ums Essen und Trinken
Wir verfügen aber auch über so viele Sprichwörter und Redensarten rund ums Essen und Trinken wie keine andere Sprache. „Dumm wie Brot!“, „Alles Käse!“, wahlweise auch „Quark“, oder ist eh alles wurscht? Das Essen bekommt bei uns Deutschen sozusagen „sein Fett weg“. „So ein Käse!“, „Jemanden durch den Kakao ziehen“ oder „in die Suppe spucken“, „Es ist zum Kotzen“: idiomatische Redewendungen, die jeder tagtäglich „im Mund führt“, sich je nach Gemütslage „auf der Zunge zergehen lässt“, ohne dabei einen Gedanken daran zu verschwenden, woher diese Ausdrücke kommen und was sie in Wahrheit ausdrücken. In seinem Essay „Alles Käse? Eh Wurscht! — Zur gastrosophischen Idiomatik des Deutschen“ hat der Schriftsteller Daniele Dell’Agli eine beachtliche Fülle von Lebensmittelmetaphern gesammelt, die „eine typisch deutsche Haltung zum Essen“ verdeutlichen. Der in Rom geborene Autor und Übersetzer ging gastrosophischen Fragen nach und musste Erschütterndes feststellen: Laut Dell’Agli sind über 90 Prozent der über 200 von ihm gesammelten idiomatischen Ausdrücke, die sich aufs Essen und Trinken beziehen, negativ konnotiert! Zudem werden diese Ausdrücke fast immer in Situationen „serviert“, die nichts mit der Zunahme von Speisen und Getränken zu tun haben. Wieso ist unser phraseologisches Menü so trübe? Beispiel:
Denn leider ist eine Suppe in der deutschen Umgangssprache zunächst und vor allem ein selbst verschuldetes Ungemach, etwas, das man sich einbrockt, ursprünglich, indem man zu viele Brotbrocken hineinbrach, und dann auch alleine auslöffeln muss, was insofern nicht weiter tragisch ist, als in Deutschland ohnehin jeder sein eigenes Süppchen kocht, tunlichst darauf bedacht, es mit niemandem zu teilen.
(einer von Daniele Dell’Aglis vielen Kommentaren zum Begriff „Suppe“)
Nach dem Autor müssten die vielen Lebensmittelskandale hierzulande eigentlich „Geiz-ist-geil-Skandale“ heißen. Kleiner Trost übrigens: Nur bei den Engländern zählt das Essen weniger, was sich auch daran festmacht, dass diese kaum idiomatische Ausdrücke dafür kennen.
Hopfen und Malz verloren? Die politische Dimension von Essen und Trinken
Dass wir uns immer weniger Zeit fürs Essen nehmen, wurde hier bereits erwähnt. In den Supermärkten wächst die Fläche für Fertig- und besonders Tiefkühlprodukte rasant, weil es immer mehr davon gibt und immer mehr Menschen darauf zugreifen. Andererseits sinkt die Zahl der Bauern, Bäcker und Metzger, die unter dem Preisdruck aufgeben müssen. Gleichzeitig wird ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel verschwendet und landet auf dem Müll, in den Industrieländern sogar etwa die Hälfte.
Essen hat etwas mit Tradition zu tun und diese etwas mit unserer Identität. Aber eben auch mit dem Verlust von Tradition und Identität! Ob wir beispielsweise eine Bäckerei wollen oder einen Backshop, der nur Tiefkühlware aufbackt, entscheiden wir mit unserem Kauf- und damit auch mit unserem Essverhalten selbst!
Auf der Zunge zergehen lassen — Gastrosophie: die Lehre von den Freuden der Tafel
Der Begriff „Gastrosophie“, ein Teilbereich der Kulturwissenschaften der Ernährung, geht wahrscheinlich auf ein Werk von Eugen von Vaerst zurück: „Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel“ aus dem Jahr 1851. Es existiert jedoch keine verbindliche Definition, im weitesten Sinne handelt es sich um die Philosophie des Essens.
(Am 6. Januar 2014 um die politische Dimension und die Verweise auf „Wurstsack“ ergänzt.)
Literatur und weitere Verweise zum Thema
- Daniele Dell’Agli: Essen als ob nicht — Gastrosophische Modelle, Frankfurt am Main 2009
- Auf der Podcast- und Download-Seite der [sic!] „radioTexte“ des Bayerischen Rundfunks gibt es ein Gespräch mit dem Autor und reichlich Zitate aus seinem Essay „Alles Käse? Eh Wurscht!“ vom 2. September 2014
- Ronalds Notizen: Das Ei
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