Arbeiten in einer Geisterfirma
Waren Sie je in einer Geisterfirma beschäftigt? Also in einem Unternehmen, das eigentlich nur noch auf dem Papier existiert? Wahrscheinlich nicht. Aber so etwas ist möglich! Ich erzähle Ihnen vom Arbeiten in einer Geisterfirma.
Es gab und gibt sie: Geisterfirmen, die eigentlich nur noch auf dem Papier existieren. Unternehmen, die „abgewickelt“ werden sollen, wie es im Business-Deutsch heißt. Sie existieren eigentlich nur noch auf dem Papier, aber vertragliche Verpflichtungen müssen eingehalten werden, um keine Konventionalstrafen zu riskieren. Ich erzähle Ihnen von meiner Arbeit in einer Geisterfirma.
Wie alles begann
Ich war arbeitslos und suchte nach einer passenden Anstellung. Auf welchem Wege auch immer, fand ich eine Personalvermittlung, früher auch Zeitarbeitsfirma genannt, bis der Begriff der Zeitarbeit zurecht in Verruf geriet, die einen Korrektor suchte. Möglicherweise kam diese sogar auf mich zu, aber das weiß ich heute nicht mehr so genau. Auf jeden Fall versprach mir der Leiter dieser Firma eine langfristige Anstellung in einer großen Druckerei. Dass diese etwas außerhalb von Frankfurt lag, störte mich nicht, zumal Kriftel mit der S-Bahn sehr gut zu erreichen ist. Also wurde ein Vorstellungsgespräch ausgemacht, zu dem ich pünktlich erschien.
Arbeiten in einer Geisterfirma
Die Vorstellung
Das Gebäude war eine mehrgeschossige Konstruktion in dieser bekannten Beton-und-Glas-Fertigteilbauweise in einem Gewerbegebiet dieser eigentlich kleinen Ortschaft. Auf dem Weg zu dem Raum, in dem das Bewerbungsgespräch beim Entleiher stattfinden sollte, kamen wir an lauter leeren Räumen vorbei. Ich dachte mir nichts dabei. Wahrscheinlich Feierabend. Der Abteilungsleiter des Korrektorats aber war zufrieden, ich erhielt die Stelle.
Der erste Arbeitstag
Am ersten Arbeitstag führte mich mein Vorgesetzter, eben dieser Abteilungsleiter, zu unserem Arbeitszimmer. Es handelte sich um einen relativ kleinen Raum, den ich mit ihm und noch einem älteren Kollegen teilte. Und wieder gingen wir auf dem Weg dorthin an lauter leeren Großraumbüros vorbei. Merkwürdig, es war Montag!
Ich wurde eingearbeitet und begann, meine ersten Texte zu lesen. Mit Rotstift auf Papier, was mir sehr genehm ist! Manchmal arbeitete ich die Korrekturen auch gleich in ein Satzprogramm ein. Auch interessant, zumal ich mit diesem bislang noch nie zu tun hatte. Zu diesen Tätigkeiten gehörten das Korrektorat eines juristischen Loseblattwerks und von Satzanweisungen für die rumänische Satzherstellung, wohin die Druckaufträge ausgelagert worden waren.
Wie auf der Flucht verlassen
Während eines Gangs auf die Toilette beschloss ich, mich einmal in einem dieser leeren Büros umzusehen. Ich tat dies später öfter, denn wann sieht mal schon einmal so etwas!
Bei genauerer Betrachtung wirkten sämtliche Räume so, als wären sie gerade wie wegen eines Feueralarms fluchtartig verlassen worden. Überall standen noch benutze Kaffeetassen, Gläser oder Flaschen herum, teilweise auch Teller oder andere Gegenstände, die darauf hindeuteten, dass hier bis vor Kurzem noch jemand gearbeitet haben musste. Ein absolut irreales, gespenstisches Bild, wie ich es während meines reichhaltigen Berufslebens nie wieder gesehen habe. Eine Geisterfirma!
Wie es zu dieser Geisterfirma kam
Ich erfuhr von meinem älteren Kollegen, dass die Firma früher ein alter Familienbetrieb gewesen war. Der Firmengründer konnte vor seinem Ableben keine Nachfolger finden, die die Firma in seinem Sinne weiterführen wollten, sodass sein Lebenswerk zum Verkauf stand. Es verfügte nicht nur durch mehrere feste Vertragskunden über volle Auftragsbücher, was es eigentlich zu einem begehrten Investitionsobjekt hätte machen können.
Ein Käufer war bald gefunden: ein französischer Druckereikonzern mit mehreren Niederlassungen in ganz Frankreich. Dieser wollte nun auch ins Ausland expandieren; da kam ihm diese Gelegenheit gerade recht. Eine weitere Druckerei, noch dazu im direkten Nachbarland, hätte bestens ins Portfolio gepasst! Allein, es kam anders.
Der französische Investor
Die wahren Überlegungen, warum sich der Käufer gegen Investitionen, dafür aber für die Liquidation entschied, habe ich nie erfahren. Sie müssen aber kurz vor meiner Zeit dort gefallen sein. Und sehr plötzlich, was das überstürzte Verlassen der Büros erklärte.
Das ursprüngliche Gebäude war bereits vorher, möglicherweise noch von einem Nachlassverwalter, verkauft worden. Die Druckaufträge gingen nach Rumänien. Zur Erledigung der anfallenden Vertragsarbeiten war die Etage angemietet worden. Nachdem diese Arbeiten nach und nach reduziert worden waren, wurden sämtliche nicht mehr notwendigen Angestellten entlassen. So kam es, dass diese Etage nur noch zu einem winzigen Bruchteil ihrer Fläche genutzt wurde. Es existierte nämlich nur noch das Korrektorat! Eine Geisteretage in einer Geisterfirma.
Nach einigen Tagen meiner Arbeit kündigten sich Abgeordnete des französischen Käufers an, der nun zu einem Liquidator geworden war. Sie hatten den Auftrag, die Auflösung durchzuziehen. Mit allen unangenehmen Konsequenzen. Diese bestanden etwa darin, zu ermitteln, wer von den noch vorhandenen Angestellten noch nötig war, um die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen auszuführen. Man fühlte sich also ständig beobachtet. Vor allem ich, der als Letzter in diese Abteilung gekommen war!
Der Personalvermittler
Es oblag meinen Pflichten gegenüber der Personalvermittlung, wöchentlich meine ausgefüllten und von meinem Vorgesetzten unterschriebenen Arbeitsnachweise bei dieser abzuliefern. Ich erledigte dies regelmäßig am Freitagnachmittag nach Feierabend. Nachdem ich dort nie jemand außer dem Inhaber gesehen hatte (die Büroleiterin und Sekretärin in Personalunion war angeblich immer gerade unterwegs), kam ich zu der Vermutung, dass es sich wohl um eine Ein-Mann-Firma handeln musste. War er anfangs noch regelmäßig freitags im seinem Büro anwesend, musste ich ihm die Nachweise später in den Briefkasten werfen, weil niemand mehr öffnete.
Wie alles endete
Natürlich endete meine Anstellung bald mit der Kündigung durch den Entleiher, den französischen Investor. Dieser existiert in dieser Form nicht mehr; siehe den französischen Wikipedia-Artikel „Luminess“, wie der Konzern seit Januar 2022 heißt. Die Niederlassung in Kriftel, Jouve Germany GmbH & Co. KG, ist mehrmals umgezogen; siehe webvalid.de: Jouve Germany GmbH & Co. Kommanditgesellschaft, Frankfurt. Eine Website jouve-germany.de existiert jedoch nicht.
Und der Verleiher, die Jobkit GmbH? Auch dieser scheint mehrfach umgezogen zu sein: zunächst mehrfach innerhalb Frankfurts und schließlich nach Aschaffenburg.
Den Kapitalismus verstehen
Ich verstehe den Kapitalismus nicht mehr. Da übernimmt ein Unternehmen ein anderes, das dessen Expansionsplänen bestens entgegenkommt und zudem über volle Auftragsbücher verfügt, um es zunächst zerschlagen zu wollen, um es später doch noch weiterzuführen?
Das Arbeiten in einer Geisterfirma ähnelt einem Arbeiten in einem Geistersystem.
Keine 100 Tage Arbeit in einer Geisterfirma
Insgesamt war ich noch nicht einmal 100 Tage in dieser Geisterfirma beschäftigt. Genauer: vielleicht vier Wochen! Damit ist diese Anstellung eine von meinen drei kürzesten, die ich je ausüben „durfte“. Über eine hatte ich bereits berichtet; siehe „Stechuhren“ und „Pfirsiche auf Toiletten“. Über die andere soll bei Gelegenheit ebenfalls berichtet werden. Auch hier wird, Sie können es sich denken, eine Personalvermittlung eine wichtige Rolle spielen.
Weitere Lesehinweise
- Handelszeitung: Gute Renditen mit «Geisterfirmen» vom 10. Juli 2020
- taz.de: Insolvenz der Geisterfirma vom 22. Januar 2009
- Faites vos jeux!
- Staatshilfen für „notleidende“ Unternehmen?
- Was tun?
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