Arbeit, unsere Religion?
Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!
(aus Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Hamburger Ausgabe von 1948)
Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.
(aus Marie von Ebner-Eschenbach, eigentlich Marie Freifrau Ebner von Eschenbach: Aphorismen, in: Schriften, Band 1, Berlin 1893)
Arbeit ist unser Leben. Unser Leben ist Arbeit, und unsere Arbeit ist unsere Religion. Auch, wenn wir immer unzufriedener damit sind. Glauben Sie nicht? Machen Sie einen Test!
Arbeit ist unser Leben. Auch, wenn laut einer kürzlich vom Meinungsforschungs- und Beratungsinstitut Gallup veröffentlichten Umfrage 70 Prozent der Deutschen „Dienst nach Vorschrift“ machen und die restlichen 30 Prozent sich in Arbeitnehmer aufteilen, die engagiert und hoch zufrieden und solche, die völlig unglücklich sind und „innerlich gekündigt“ haben, und auch wenn laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung nur noch für 35 Prozent der Firmen und für 62 Prozent der Beschäftigten Tarifverträge gelten, erheben wir die Arbeit in einen Status ähnlich einer religiösen Verehrung.
Unser Leben ist Arbeit, und unsere Arbeit ist unsere Religion. Punkt? Fragezeichen? Ausrufezeichen? Glauben Sie nicht? Sie finden im Folgenden Aussagen, die auf Religion zutreffen. Überprüfen Sie, ob sie auch auf Ihr Berufsleben zutreffen, und ersetzen Sie das Wort „Religion“ durch „Arbeit“:
Religion
- stiftet Sinn
- begründet Werte
- verlangt Opfer
- fordert Unterwerfung
- verspricht Segnungen
- begründet Gemeinschaft
- schafft Abhängigkeit
- setzt ein Bekenntnis voraus
- vermittelt Orientierung
- erwartet Hingabe
- gibt ein Heilsversprechen
- formuliert Gebote
- schafft Heilige
- erklärt Heilige zu Vorbildern
- verehrt Märtyrer
- ist der höchste Zweck, dem Menschen dienen können
Na, wie viele Punkte haben Sie „angekreuzt“? Was davon trifft auch auf (Ihre) Arbeit zu?
Ach ja, das wäre hier beinahe vergessen worden: Aus einer Religion resp. Kirche kann man exkommuniziert werden. Auch aus der Arbeit!
Andererseits: Die Gefahr, durch Religion an einem Burn-out-Syndrom oder einem (psycho)somatischen Leiden zu erkranken, wie sie in der oder durch die Arbeitswelt immer häufiger vorkommen, dürfte relativ gering sein.
(Mit Dank an die Frankfurter Rundschau für ihre hervorragenden Themenschwerpunkte, nach „Gerechtigkeit“ diesmal zum Thema „Arbeit“, aus der die Idee und der „Fragebogen“ übernommen wurden! Siehe auch „Arbeit. Unsere Religion“ von Daniel Baumann aus der Frankfurter Rundschau vom 27. März 2015, Druckausgabe vom 28./29. März 2015, und in diesen Notizen „Was tun?“ über Sinn und Wandel menschlicher Arbeit und die Verse „Streben“ von Oskar Blumenthal.)
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Viele spirituelle Weisheiten muten seltsam an, wenn sie auf die niedere Ebene des „äußeren“ Lebens angewendet werden. So könnte es auch hier sein: „Ora et labora“, bete und arbeite, stellt eine direkte Verbindung zwischen Religion und Arbeit her. Sinn ergibt sie meines Erachtens, wenn das spirituelle Streben nicht auf einen sorgfältig abgegrenzten Raum beschränkt wird („sonntäglicher Kirchgang“), sondern ganz konkret im Alltag verankert wird. Zum Beispiel in der ständigen Selbsterkenntnis, Dienstbarkeit, Annahme der Lebensumstände.
Nun, wenn ich mal sarkastisch antworte, würde ich sagen: Bete und arbeite, damit du nicht auf dumme (= unchristliche, unkeusche) Gedanken kommst!
Das Motto „Ora et labora“ stammt übrigens sehr wahrscheinlich vom Benediktinerorden; vollständig heißt es: Ora et labora (et lege), bete und arbeite (und lies). Laborare stand ursprünglich für die manuelle Arbeit, es kann allerdings auch mit „leiden“ übersetzt werden. Und von der Antike über das Mittelalter bis hin über das Zeitalter der industriellen Revolution hinaus hatte Arbeit nie etwas, was auch nur ansatzweise mit Spiritualität zu tun hatte. Selbst ursprünglich für die Benediktiner nicht! Zitat aus dem sehr interessanten Artikel über den Ursprung und die Bedeutung dieses Mottos bei Telepolis von Heise online: „Ora und labora“:
Und weiter:
Erst später „setzte ein Bedeutungswandel des klösterlichen Arbeitsbegriffs ein, das Bewusstsein des ‚Leidens‘ verschwand mit der Verinnerlichung der Arbeitsdisziplin, der sakrale Gehalt gewann an Bedeutung“.
Spiritualität aber „wirkt“ sowieso über „die niedere Ebene des ‚äußeren‘ Lebens“ hinaus, sonst verdient sie ihren Namen nicht. Ich verstehe aber durchaus, worauf du hinauswillst. Sie aber in der (körperlichen) Arbeit zu suchen, ist meiner Ansicht nach nur bei solchen Menschen in solch selbstbestimmten Tätigkeiten möglich, die eine Spiritualität (bei) der Arbeit zulassen (können), einer Arbeit, hinter der der Arbeitende hundertprozentig steht. Und das dürfte äu0erst selten, wenn nicht gar unmöglich sein!
Zudem gibt es einen Unterschied zwischen Religion und Spiritualität; siehe hier den dir bekannten Beitrag „Religion und Spiritualität“. Der sonntägliche Kirchgang hat denn auch mit ersterem zu tun und nichts, aber auch gar nichts mit Spiritualität!
Die Frage wäre daher, ob echte Spiritualität, auch bei der Arbeit, heute überhaupt noch gelebt werden kann. Ich denke, nicht, sondern wir machen die Arbeit zur Religion/zum Religionsersatz, bei der Spiritualität nichts zu suchen hat, weil sie von der Arbeit in der kapitalistischen Welt ablenkt!
Danke für die ausführliche Antwort!
Ich glaube, dass es bei sehr vielen Tätigkeiten möglich ist, spirituell bewusst zu bleiben.
„Arbeit“ ist ein sehr weit gefasster Begriff. Wie sollte man sich heute sicher sein, dass Arbeit nicht schon seit langen Zeiten auch als „innere Arbeit“ aufgefasst wurde?
Bei Rumi habe ich gefunden: “Love isn’t the work of the tender and the gentle; Love is the work of wrestlers.“ Das erinnert an den Dschihad im Sinne der Sufis: den inneren Kampf.
Man spricht ja von „Zusammenarbeit“. In spirituellen Gruppen kann es eine große Herausforderung sein, sich darauf einzulassen und bei all den unterschiedlichen Sichtweisen etwas Gemeinsames zu schaffen, sei es materiell oder immateriell. Und dabei die Hindernisse im eigenen Wesen zu erkennen, wenn man auf bestimmte Eigenheiten der anderen „anspringt“.
Ich musste grade an den Tankwart in „Peaceful Warrior“ denken („Der Pfad des friedvollen Kriegers“). Wer sollte verhindern, dass echte Spiritualität gelebt werden kann, außer man selbst?
Zu deiner Frage am Ende: die Gesellschaft, das (kapitalistische) (Arbeits)umfeld. Man muss ein Mönch sein oder sonstwie außerhalb davon stehen, um echte Spiritualität leben zu können.
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