Von mangelnder Ambiguitätstoleranz
Ambiguitätstoleranz? Nie gehört, denken Sie wahrscheinlich. Doch was bedeutet das eigentlich? Und welche Folgen hat es, wenn es daran mangelt? Für eine/n selbst, für uns und für die Gesellschaft?
Ambiguitätstoleranz? Nie gehört, denken Sie wahrscheinlich. Das Wort bezeichnet das Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit (Ambiguität), von Widersprüchlichkeit und kulturell bedingten Unterschieden. Der Begriff geht auf die österreichisch-US-amerikanische Psychoanalytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik zurück, die schon 1949 beobachtete, dass einige Menschen mehrdeutige und gegensätzliche Sachverhalte nicht ertragen können und daher unfähig sind, sich in die Sichtweise anderer Menschen hineinzuversetzen.
Es gibt (nicht nur) Schwarz oder Weiß
Das Phänomen mangelnder Ambiguitätstoleranz zeigt sich heutzutage besonders in den sozialen Netzwerken, die immer mehr zu unsozialen verkommen (sind). Es gibt nur Freund oder Feind, Schwarz oder Weiß. Oder nur noch Nazis und Gutmenschen. Alles, was dazwischenliegt, wird ausgeblendet. Grautöne existieren nicht mehr.
Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist nach Frenkel-Brunswik ein Extrem der Ambiguitätsintoleranz. Menschen mit mangelnder Ambiguitätstoleranz neigten zu einfachen Lösungen für komplexe Problematiken. Diese Unfähigkeit sei außerdem eng verwandt mit der negativen Einstellung gegenüber „Andersartigem“, mit Autoritarismus und Ethnozentrismus, d. h. der Ablehnung des (kulturell) Fremden.
Nazi oder Gutmensch – und nichts dazwischen
Gestern bin ich zufällig auf einen Essay von Imre Grimm im Redaktionsnetzwerk Deutschland RND gestoßen, der sich mit dieser Thematik beschäftigt: „Nazi oder Gutmensch – und nichts dazwischen: Warum das Schwarz-Weiß-Denken zunimmt“.
Schwarz-Weiß-Denken regiert – nicht nur bei Facebook und Twitter. In den vergifteten Untiefen der Kommentarspalten braucht es nur wenige Schlenker bis zu Hitler, Wutsmileys und GROSSBUCHSTABEN !!!11!!
Ein ganzer Abschnitt darin widmet sich den Medien und der Aufmerksamkeit, die wir Inhalten entgegenbringen. Dass es um die Medien- und Nachrichtenkompetenz schlecht bestellt ist, darauf haben wir hier schon hingewiesen. Aber dass laut einer im Beitrag von Grimm leider nicht näher genannten Studie
59 Prozent aller bei Facebook oder Twitter verlinkten Inhalte gar nicht angeklickt werden. Die meisten im Netz verschickten Storys werden nicht gelesen. Weder vom Absender noch vom Empfänger. Von niemandem. Sechs von zehn Menschen lesen höchstens die Überschrift.
ist geradezu erschreckend! Dazu passt, dass eine „Meldung“ der satirischen Website „The Science Post“, einer Mischung aus dem „Postillon“ und der „Titanic“, die nur aus der Überschrift „Study: 70% of Facebook users only read the headline of science stories before commenting“, einem kurzen Teaser und sonst nur aus Lorem-ipsum-Blindtext besteht, zehntausende Male ungelesen geteilt wurde.
Mitreden wollen ohne eine Ahnung und zu Thematiken, die eine/n gar nicht betreffen
Aber Hauptsache, mitreden zu wollen. Obwohl man eigentlich überhaupt keine Ahnung hat – und obwohl manche Thematiken eine/n gar nicht betreffen! So wüten Menschen gegen Vegetarier/-innen und Veganismus, gegen die Ehe von Homosexuellen oder das dritte Geschlecht, obwohl ihnen dadurch weder etwas genommen ist noch es sie persönlich tangiert.
Ambiguitätsintoleranz ist übrigens kein ausschließlich rechtes Phänomen, auch Linke neigten dazu. Gemeinsam ist ihnen aber: Mangelnde Ambiguitätstoleranz hat meist auch mit mangelndem Selbstwertgefühl zu tun. „Ist ihre Ambiguitätstoleranz instabil, müssen sie sich innerlich schützen“, heißt es im Beitrag, hier als Zitat der Psychotherapeutin Astrid von Friesen, und weiter:
Ambiguität ist eine erwachsene Fähigkeit. Babys kommen als Narzissten zur Welt. Sie müssen erst lernen, ihre Impulse zu kontrollieren und starke Gefühle auszuhalten. Das gilt ähnlich für Gesellschaften. Eine Gesellschaft ohne verbindlichen Wertekanon, die sich bedroht fühlt von zu schnellen Veränderungen, fällt zurück in infantile Muster.
Die (Komplexität der) Wahrheit beschränkt sich eben nicht nur auf 280 Zeichen und auf Überschriften! Wer das glaubt, mit dem ist nun wirklich „kein Staat zu machen“.
(Siehe zu weiteren Informationen auch den entsprechenden Wikipedia-Artikel und hier zur autoritären Persönlichkeit „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ sowie „Eine Frau twittert“!)
Für Facebook kann ich da vieles bestätigen. Allerdings greife ich auch hin und wieder bei einzelnen (!) Worten zu Großschreibung, wenn ich etwas hervorheben möchte, weil ich bei Facebook nicht fett schreiben kann. Ansonsten lehne ich es ab, alles klein oder alles groß zu schreiben.
Nun, es geht in meinen Beitrag und auch dem des RND (der übrigens unbedingt lesenswert ist, nicht nur deswegen, weil er auch einen Abschnitt über den Islam enthält!) weniger darum, in welcher Schreibweise jemand seine/ihre (wobei diese hauptsächlich von Männern kommen:) Hasskommentare verfasst. Bei dir gehe ich aber davon aus, dass das nicht der Fall ist, selbst wenn du mal Versalschrift nutzt. (Habe übrigens deine Ergänzung aus dem zweiten Kommentar in diesen überführt; ich hoffe, dass dir das recht ist.)
Danke, das war mir recht! Ich hatte vermutet, dass du es tust. Ich war mit den Fingern zu schnell.